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Berlin, zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor
ОглавлениеBerlin leuchtete. Obschon viele Fenster dunkel waren, pulste hinter anderen das Leben. Um den Marlene-Dietrich-Platz feierte das Berlinale-Publikum in den Veranstaltungsstätten, den Hotels, in Kneipen und Clubs die letzte Nacht. Auch im Regierungsviertel war vielfach helles Licht, da tagte noch so manche Runde, debattierten Ausschüsse, besprachen sich Berater mit ihren ministerialen Vorgesetzten. Etwas dunkler war es in den weit über die Stadt verstreuten Botschaften von über hundert Ländern der Welt, was aber nicht hieß, dass dort nicht auch noch allerlei Aktivitäten im Gang waren. Reges nächtliches Treiben herrschte etwa in der chinesischen Botschaft, die am Märkischen Ufer wie ein gestrandetes UFO an der Spree lag. Selbst in der nordkoreanischen Botschaft in der Glinkastraße, wo normalerweise nur ein paar spärliche Lichter brannten, waren heute viele Fenster erleuchtet, als sei dort ein Fest im Gang. Und auf dem Gelände der britischen Botschaft neben dem Hotel Adlon am Brandenburger Tor waren Arbeiter damit beschäftigt, die so wichtigen Antennen auf dem Dach des Botschaftsgebäudes zu warten. Nicht nur die Freuden der Partygänger, sondern auch so manche harte Arbeit scheute in der wiedervereinten deutschen Hauptstadt offenbar das Licht des Tages.
Auch Jeremy war noch unterwegs. Nachdem er vergeblich den Umkreis des Hotels nach Mie abgesucht und erfolglos versucht hatte, sie über die Nummer auf ihrer Visitenkarte zu erreichen, hatte er sich irgendwann auf der Alten Potsdamer Straße wiedergefunden und beschlossen, nicht mehr zu J. D. in die Vox Bar zurückzukehren, sondern einen Spaziergang durchs nächtliche Berlin zu machen. Er ging unter kahlen Bäumen an den aufragenden Fassaden der zugleich posh und prollig wirkenden Gebäude des neuen Berlin entlang, bis sich vor ihm braunrot der Kollhoff-Tower in die Höhe reckte. Dann überquerte er den Potsdamer Platz und folgte der Ebertstraße. Gut fünfzehn Jahre zuvor war hier noch Niemandsland gewesen. Ein Todesstreifen für die Menschen und ein Paradies für Kaninchen. Was wohl aus den Kaninchen geworden war? Nun, jede politische Veränderung hat Gewinner und Verlierer. Doch Jeremy versuchte vergeblich, sich mit Gedanken an die wechselvolle Geschichte Berlins abzulenken. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu den Szenen, Gesprächen, Blicken und Anblicken des Abends zurück.
Falling, yes I am falling, and she keeps calling me back again ... Was war das für ein Lied, das ihm da im Kopf herumging? Ach, natürlich, seine Lieblingsband aus Liverpool, Help!-Album. I’ve just seen a face, I can’t forget the time or place, where we just met ...
Er folgte der nächsten Straße nach rechts. Vor der unspektakulären Kulisse mehrstöckiger rotgrauer Wohngebäude informierte eine Tafel über „Mythos und Geschichtszeugnis Führerbunker“. Auf der Freifläche über dem Ort, wo sich der Diktator erschossen hatte, parkten jetzt Autos. Die Geschichte geht weiter. Jeremy bog ab, erreichte ein dunkles Feld aus unzähligen Betonquadern. Sein Smartphone klingelte. War sie das? Er warf einen Blick aufs Display. J. D. Ach so. Er drückte ihn weg, ging weiter. Unvermittelt war er tief zwischen die düsteren Stelen geraten, die ihn wie ein Labyrinth verschlucken wollten. Aber das wahre Labyrinth war in seinem Kopf. Falling, yes I am falling ...
Natürlich liebte er Cathy. Sie wollten zusammen glücklich werden, Kinder haben. Nur dass ihnen beides in ihren kurzen Ehejahren nicht gelungen war. Jeremy war kein Katholik, der an die Unauflöslichkeit der Ehe glaubte. Aber er war ein aufrechter Brite mit Prinzipien. Er glaubte an die Treue und Zugehörigkeit zweier verheirateter Menschen als eine ethische Verpflichtung, auch dann, wenn das schwer zu fassende Etwas, das man „Liebe“ nennt, zwischen ihnen vielleicht erloschen war. Zumindest was den hormonellen Glücksrausch anbelangte. Aber heute Abend hatte Mie etwas in ihm wiedererweckt, was er, unbemerkt, lange vergessen hatte, und jetzt wurde ihm bewusst, wie unendlich es ihm doch gefehlt hatte. Ein Gefühl, das er seit den ersten Tagen der rasenden Verliebtheit in Cathy nicht mehr verspürt hatte. Oder etwa nicht? Jeremy, sei ehrlich: Du hast es auch in den ersten Tagen der Verliebtheit in Cathy nicht gespürt. Deine Verliebtheit ist nie eine rasende gewesen. Nicht die in Cathy.
Ein Gefühl also, das er seit den ersten Tagen der rasenden Verliebtheit in Yukiko nicht mehr verspürt hatte. Yukiko, seine große Liebe, damals in Japan, die er verloren hatte, weil die Schatten der dunklen Vergangenheit sich zwischen sie drängten. Als sie vor wenigen Jahren wieder mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, war es zu spät gewesen. Und jetzt war sie tot, ohne dass sie sich noch einmal begegnet wären.
Ja, das war das Gefühl, das ihn heute Abend erst in Rausch und Euphorie versetzt hatte und ihn jetzt noch zugleich mit Glück und einem Empfinden von schmerzlich nagender Leere erfüllte, das so intensiv war, dass er, so angetrunken er sein mochte, unmöglich an Schlaf denken konnte, sondern ziellos weiter durch das nächtliche Berlin streifen musste, bis in dieses stelenbesetzte Herz der Finsternis hinein. Ein Gefühl wie damals bei Yukiko. Konnte es sein, dass er Cathy nie richtig geliebt hatte? Dass er sich das nur vorgemacht hatte, um sich aus dem Schatten der Vergangenheit zu befreien? Dass Yukiko bisher die einzige wahre Liebe seines Lebens gewesen war? Und jetzt war dieser schwarze Schatten wiederauferstanden, bedrängend, bedrohlich und so süß und verführerisch. Es war fast unheimlich, wie sehr ihn Mie an Yukiko erinnerte. Streich das „Fast“. Es war unheimlich.
Der gleiche zierliche Körperbau, auch wenn Mie etwas kräftiger war, die gleichen großen, dunkel strahlenden Mandelaugen, das gleiche offen getragene schwarze Haar. Die kleine Bewegung der Hand, wenn sie ihr glänzendes Haar zurückstrich; die Art, wie sie lachte, die immer seltsam verschämt wirkte; die Art, wie sie sich kleidete. Das zurückhaltende, stets gefasste Wesen. Selbst solche Kleinigkeiten wie die Tatsache, dass Mie den ganzen Abend über nur grünen Tee zu sich genommen hatte. Yukiko hatte niemals Alkohol angerührt – auch nie geraucht hatte sie – und am liebsten Matcha getrunken, schaumig geschlagenen japanischen Pulver-Grüntee. Fast als wäre Mie eine verschollene jüngere Schwester Yukikos. Aber das konnte nicht sein.
Yukiko war damals, als er sie verloren hatte, Anfang zwanzig gewesen. Jetzt wäre sie Mitte bis Ende vierzig. Mie war eindeutig älter als Yukiko damals und jünger als sie jetzt gewesen wäre. Sehr exakte Aussage, Jeremy! Eine Spanne von 25 Jahren! Geht das nicht etwas genauer? Aber Jeremy, der Mie den ganzen Abend über angestarrt hatte, stellte fest, dass er sich schwertat, ihr Alter einzugrenzen. Sicher war sie unter vierzig. Aber wie so manche fernöstliche Frau wirkte sie seltsam alterslos. Sie hätte Mitte zwanzig und Ende dreißig sein können, und beides hätte Jeremy nicht überrascht.
Das Alter war also ein Unterschied. Gab es noch andere? Sicher. Yukiko war Japanerin gewesen und Mie war Koreanerin, auch wenn man es ihr nicht ansah – vielleicht hatte sie, wie viele Koreaner, auch japanisches Blut in den Adern. Die andere Kultur musste natürlich gewisse Unterschiede mit sich bringen, wenngleich Jeremy in dieser Richtung nicht das Geringste aufgefallen war. Yukiko war stets fröhlich, aufgeweckt und wissbegierig gewesen, jedenfalls am Anfang, bevor sich die Wolke über ihre Beziehung gelegt hatte. Mie dagegen schien, auch wenn sie lächelte, eine rätselhafte Schwermut zu umgeben. Sie hatte heute Abend nicht viele Fragen gestellt, fast als würde sie, auf unerklärliche Weise, längst alles wissen. Vielleicht war das eine Folge des Altersunterschieds: die Abgeklärtheit eines Lebens, das viel erlebt und erlitten hatte. Vielleicht war Yukiko zuletzt ebenfalls so geworden, da waren so viele Rätsel, die ihre letzten Jahre umhüllten. Die Rätselhaftigkeit des Wesens war also auch eine Gemeinsamkeit der beiden Frauen? Ja und nein. Yukiko war auf andere Art rätselhaft gewesen, und vieles davon hatte er schließlich verstanden, die Gründe ausgelotet, wenn sich ihm auch längst nicht alles erschlossen hatte. Das Rätsel Mie jedoch – er wusste nicht, woher der Gedanke kam, empfand ihn aber sofort als zwingend – schien ihm prinzipiell unverständlich. Er kannte sie kaum zwei Stunden und war bereits restlos davon überzeugt. Als bezöge sie all ihre Lebenskraft aus diesem Rätsel und würde sich mit der Lösung ihres Rätsels förmlich selbst auflösen. Vielleicht war es das, was sie auch etwas unheimlich machte, so dass sie Jeremy, bei allem Gefühl des Hingezogenseins, ein wenig Angst machte. Vor Yukiko hatte er nie Angst gehabt.
Natürlich waren da, was die Unterschiede anbelangte, auch so äußerliche Punkte wie die Tatsache, dass Yukiko Jura studiert hatte, während Mie eine bisher wohl eher erfolglose Schauspielerin war – was im Grunde alles war, was er über sie wusste. Jeremy fiel auf, dass sie letztlich nicht viel miteinander gesprochen hatten, und das meiste war mehr oder weniger belanglos gewesen. Doch das war nicht wichtig. Die Anwesenheit war wichtig, die Aura, die Nähe, das rätselhafte Gefühl von Einverständnis. Jeremy hatte ihr allerlei Fragen gestellt, über sich, ihre Arbeit, ihr Leben. Gespannt hatte er ihren Antworten gelauscht oder vielmehr dem Klang dieser Stimme, und jetzt wurde ihm bewusst, wie wenig vom Inhalt der Antworten bei ihm hängengeblieben war. Natürlich würde sie die Filmrolle bekommen, ob sie nun große Erfahrung vorweisen konnte oder nicht; sie war unbedingt die ideale Besetzung, das hatte er auf den ersten Blick gesehen. Aber selbst das war in diesem Moment nicht das Wichtigste: Das Wichtigste war, wie es mit ihnen jetzt weitergehen sollte. Konnte es denn überhaupt weitergehen? Nein. Aber es musste.
Nachdem ihn sein Weg immer tiefer in das leicht abschüssige Rund zwischen den gespenstischen Betonblöcken hinabgeführt hatte und er mehrmals abgebogen war und darüber die Orientierung verloren hatte, stellte er nun fest, dass das Labyrinth, in dem er sich befand, kein wirkliches Labyrinth war. Es gab keine Sackgassen, keine verwinkelten Gänge mit Abzweigungen, es gab nur dieses große Feld aus rechteckigen Blöcken, und er musste nur stur durch schwarze Nacht geradeausgehen, egal in welche Richtung, um wieder hinauszugelangen.
Mach das, Jeremy: Geh stur geradeaus. Die Stelen wurden niedriger, und er gelangte an das Licht einer Straße.
Natürlich: Nicht Mie selbst war unheimlich. Nicht einmal ihre Ähnlichkeit mit Yukiko war es; es gab so viele Asiatinnen, die einander ähnlich waren, jedenfalls für seine europäischen Augen. Das Unheimliche war vielmehr, was aus dieser Ähnlichkeit folgte. Jeremy hatte Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er hatte Angst, dass sich alte Abgründe wieder öffneten und ihn verschlangen. Angst, sich zu verlieben und in einen Strudel gerissen zu werden, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte. Angst, alles zu verlieren, was er sich mit Cathy aufgebaut hatte. Angst vor einer Wiederholung seiner Lebensgeschichte, nur mit anderen Vorzeichen.
Wie war es noch, dieses Marx-Zitat von der Wiederholung der Geschichte als Farce? Hobbyphilosoph Jeremy kramte in seinem Gedächtnis und ihm fiel der Zusammenhang wieder ein. Marx bezog sich da auf ein Zitat seines Lehrmeisters Hegel, das besagte, dass „alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen“. „Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“, habe er vergessen hinzuzufügen, so Marx. Und Marx hatte vergessen, so Gouldens, dass jede Farce auch eine Tragödie sein kann, je nach Blickwinkel, je nachdem, wo man persönlich steht. Jeremy hatte Angst vor der Tragödie, hatte Angst vor der Farce.
Vor ihm eröffnete sich der Blick auf das gelb beleuchtete Brandenburger Tor. Hier hatte sich einst die Berliner Mauer erhoben. Jeremy erinnerte sich an seinen ersten Westberlin-Besuch Mitte der achtziger Jahre. Er könnte dieses Tor, das so lange ein Symbol der geteilten Stadt gewesen war, jetzt durchschreiten und unter den Linden nach Osten gehen. Aber Jeremy entschied, dass er am Endpunkt seiner nächtlichen Wanderung angelangt war. Oben auf dem Tor hell bestrahlt die Quadriga: Eine geflügelte Frau, die Friedensbotin, lenkt ihren Wagen, von vier Pferden bespannt, auf die Fahrt ins Ungewisse.
Jeremy verspürte den Impuls, Cathy anzurufen, jetzt, mitten in der Nacht. Doch sicher schlief sie, und sie war nie gut gelaunt, wenn er sie weckte. Aber vielleicht konnte er schon morgen zurückfliegen, nicht erst übermorgen, und sie überraschen. Ihrer Ehe Frieden und Versöhnung bringen. Ja, morgen, gleich nach Schwanenwerder, würde er sich bemühen, noch einen Flug zu ergattern. Oder, das war wohl realistischer, zumindest früh am Morgen darauf. Und Mie dann schleunigst vergessen. Jedenfalls diese Mie und alles, was sie in ihm auslöste. Sie war nur ein Traum gewesen. Ein wiedererwachter Traum aus der Vergangenheit, in dem man nächtlich trunken schwelgt, über den man tags indes nur den Kopf schütteln kann.
Aber die Rolle sollte sie bekommen. Klar. Das war eine Sache der Kunst, nicht der persönlichen Gefühle. Interesseloses Wohlgefallen.
Auf einmal tat ihm Cathy leid. Er ließ sie zu viel allein. Wo sie doch eine schwere Zeit durchmachte. Erst vor wenigen Wochen hatte sie wieder eine Fehlgeburt gehabt. Dabei hatten sie sich doch alle Mühe gegeben. Nein, er würde nicht so schnell aufgeben. Liebe war nicht nur ein Gefühl, sondern eine Verantwortung, Verpflichtung.
Entschlossen richtete er seine Schritte zurück, hin zum Hotel.
Aber wie rätselhaft schön die schwarze Mie gelächelt hatte. Und so gern wäre er darin versunken. In ihrem Lächeln, ihren Mandelaugen.
Er winkte einem Taxi. Nichts wie zurück ins Hotel.