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London, Chelsea

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An jenem Abend öffnete Cathy Gouldens-Wong die Tür des herrschaftlichen Backsteinbaus in der King’s Road am Sloane Square in London, in dem sie, zumindest meldeamtlich, gemeinsam mit ihrem Gatten wohnte, um eine kalte, abweisende Wohnung vorzufinden. Sie wusste, dass ihr Mann, wie so oft, irgendwo auf dem „Kontinent“ unterwegs war, und doch enttäuschte sie die Leere und Dunkelheit, die ihr aus der geöffneten Tür entgegenschlug.

Immerhin war nicht eingebrochen worden. Davor hatte sie bei jeder Rückkehr in dieses unheimlich wirkende Haus Angst, seit sie vor etwa einem Jahr von einer Urlaubsreise nach Kalifornien zurückgekommen waren, nur um feststellen zu müssen, dass in der Zwischenzeit jemand ihre Sachen durchwühlt und diverse Wertgegenstände entwendet hatte.

Die letzten Tage hatte Cathy bei einer ihrer wenigen Freundinnen hier in Europa, einer Hongkong-Chinesin, verbracht, die mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern ein Landhaus in den Cotswolds besaß. Es war schön gewesen, der Besuch dort hatte sie abgelenkt, aber heute war Cathy dennoch die Decke auf den Kopf gefallen und sie hatte überstürzt ihren Koffer gepackt. Irgendwie hatte sie das Glück dort nicht mehr ausgehalten, die strahlende Hausfrau, der fürsorgliche Gatte, die beiden so wohlerzogenen Knaben, von denen der ältere kürzlich in Eton eingeschult worden war. War es etwa Neid, was sie empfunden hatte? Nein, versicherte sie sich, sie hatte nur das drückende Bewusstsein nicht mehr ertragen, dass ihre Freundin und deren Familie offenbar etwas besaßen, was Cathy bislang verwehrt geblieben war. Vor diesem Bewusstsein hatte sie die Flucht ergriffen und gehofft, sich mit ihrer luxuriös ausgestatteten Stadtwohnung im privilegierten Chelsea trösten zu können.

Doch als sie jetzt die Tür öffnete und ihr die leere Wohnung entgegengähnte, bereute sie ihre Entscheidung sogleich. Das Haus, das Jeremy von seinen Eltern und Großeltern geerbt hatte, war wie ein altes britisches Gespensterschloss, in dem ein Geist wohnte, der keinen Eindringling duldete und alles tat, um ihn zu vergraulen. Sie, die in Los Angeles geborene Chinesin mit US-Pass, die zuletzt lange Jahre in Shanghai gewohnt hatte, war hier nie wirklich heimisch geworden.

Nein, Cathy fühlte sich hier nicht wohl. Nicht im Haus, nicht in England. Aber ihre Ehe, ihre Erwartungen und Hoffnungen hatten das lange kompensiert. Doch nun fühlte sie sich auch in ihrer Ehe nicht mehr wohl. Und das Wetter machte ihr zu schaffen, natürlich. Regen und graue Häuser, und all das Grau des Landes an den grauen Gesichtern der Menschen abzulesen.

Keine Frage, London war eine der großen Weltstädte, Zentrum des Kapitals und der Kultur. Trotzdem: Wie sehr vermisste sie Shanghai, die Buntheit, die Gerüche, die Intensität der Menschen, die Geschwindigkeit, den Abwechslungsreichtum. Engländer waren Zyniker, und ihr sense of humour war, so Cathys Überzeugung, nichts als Selbstschutz und letztlich eine Art Galgenhumor. Sie mochte den britischen Humor nicht besonders, genauso wie sie die Briten nicht recht mochte. Sie spürte, dass darunter eine sehr nüchterne Weltsicht lauerte. Eine, die ihr wiederum aus China vertraut war. Da gab es auch keine falschen Sentimentalitäten, vor allem nicht im Geschäftsleben. Nur in der Familie, die heilig war, gab es unbedingte Loyalität und Gehorsam den Eltern gegenüber. In China hatte diese Weltsicht viel mit dem noch immer tief verankerten Konfuzianismus zu tun, auch wenn der gute alte Konfuzius seit der Kulturrevolution oft verteufelt worden war. Cathy hatte sich in letzter Zeit vertiefter mit Konfuzius beschäftigt und fand, dass es in manchen Punkten durchaus Zeit war für eine Renaissance seines Wertekanons. Trotzdem war ihr das alles einfach zu nüchtern, es fehlte eine metaphysische Perspektive, und diese pragmatische Weltsicht, wie sie auch aus dem trockenen Humor der Briten zu sprechen schien, machte ihr Angst. Da musste es doch mehr geben, das war noch nicht alles, und über dieses „Mehr“, das da sein musste, damit das Leben sich lohnte, einen Zweck und ein Ziel hatte, machte man doch keine Witze. Das war eine ernste Sache.

Über all das hatte sie sich erst kürzlich mit Jonathan unterhalten – ein alter Freund von Jeremy, der in Shanghai ein hohes Tier bei der dortigen Niederlassung der Schweizer Großbank UBS gewesen war, dann aber seinen Posten hatte aufgeben müssen. Nun leitete Jonathan die Londoner Zweigstelle der Zürcher Century Bank, wo er unter anderem für die Verwaltung der Konten der von Jeremy betreuten Gao-Feng-Stiftung zuständig war. Der gut aussehende Mitvierziger hatte sich zu einer Art Seelentröster für Cathy entwickelt. Nicht, dass sie irgendwelche Absichten gehabt hätte. Aber hier war jemand, der zuhörte, sie akzeptierte, wie sie war. Das tat ihr gut. Besonders wenn Jeremy unterwegs war. Und er war viel unterwegs. Hongkong, New York, mal Peking, Tokio und immer wieder die Schweiz. Fast schien es ihr, er verbringe mehr Zeit in der Schweiz als in London. Für seine Stiftungstätigkeit musste er oft in Zug und noch häufiger in Zürich sein.

Cathy mochte auch die Schweiz nicht. Die Berge waren schön, aber die Menschen schienen ihr sonderbar und sie verstand sie nicht, selbst wenn sie mit ihrem eigentümlichen Akzent, der mehr nach Rachenkrankheit klang, Englisch redeten. Und im Vergleich zu London oder gar Shanghai wirkte Zürich ziemlich provinziell. Die Schweiz erschien ihr wie ein einziges großes Schließfach mit ein paar Pförtnern dazu. Man fährt hin, bringt sein Vermögen in Sicherheit, wechselt ein paar höfliche Worte mit dem Pförtner und verschwindet. Dass Jeremy dort arbeitete, ging ihr nicht in den Kopf. Na gut, aber er arbeitete ja mit Geld. Vor allem arbeitete er wohl mit diesem stets todschick gekleideten und teuer parfümierten, rotgefärbten Bankierstöchterchen, der Leiterin des Anlageausschusses der Gao-Feng-Stiftung, Chloe Bodmer, Tochter und Augapfel von Beat Bodmer, der die junge Century Bank in den neunziger Jahren gegründet hatte und der als ein ausgesprochener Asienkenner galt, weshalb die Gelder der Stiftung gerade von dieser Bank verwaltet wurden. Mit Chloe stimmte sich Jeremy über die Angelegenheiten der Stiftung ab. Gefühlte zweimal pro Woche. Und jetzt, nachdem Bankgründer Beat kürzlich fast einem Herzinfarkt erlegen wäre und im Sanatorium war, während die überforderte Chloe von einem auf den anderen Tag die Geschäfte hatte übernehmen müssen, würde es eher noch öfter werden. Cathy fragte sich dennoch, ob es hier in London letztlich nicht wichtigere Dinge gab, um die sich Jeremy weitaus weniger kümmerte als um all die Geschichten mit Cloe – schließlich war er verheiratet.

Doch selbst wenn Jeremy einmal in London war, beschäftigte er sich mehr mit seinen Film- und Buch-Hirngespinsten als mit seiner Frau. Cathy hasste Jeremys Filmprojekt, für das er jetzt direkt von Zürich nach Berlin geflogen war, zweifellos um dort mit jungen japanischen Schauspielerinnen herumzuturteln, während sie hier in der kalten Wohnung mutterseelenallein war. Auch gefiel ihr nicht, dass das Drehbuch zu seinem Film ziemlich unverhohlen den traumatischen Verlust seiner früheren japanischen Geliebten verarbeitete. Vor einigen Jahren hatte diese Geliebte nach über einem Jahrzehnt Funkstille wieder mit ihm Kontakt aufgenommen, und Cathy hatte das Gefühl, als habe sie damit die Kette von Abenteuer und Unglück der folgenden Tage überhaupt erst ausgelöst. Nur ungern dachte Cathy an jene Ereignisse zurück. Sie war zusammen mit vielen anderen hoch oben auf dem Shanghai World Financial Center von skrupellosen Verbrechern als Geisel genommen worden, die, als chinesische Nationalisten getarnt, in Wirklichkeit von ultranationalistischen japanischen Hardlinern gesteuert worden waren. Und während sie im SWFC so viel durchmachen musste, war Jeremy in Japan herumgeirrt, auf der Suche nach seiner verschollenen Geliebten, die aber für immer verschollen geblieben war. Am Ende war es ihm immerhin gelungen, schlimmeres Unheil zu verhindern und Cathy zu befreien, wobei sie sich bis heute fragte, ob er nicht einfach nur unverschämtes Glück gehabt hatte. Sie würde ihn ja gerne als großen Helden betrachten – wenn er sich in ihrer Gegenwart nur etwas heldenhafter aufführen würde!

Jedenfalls: Nach all den schlimmen Erlebnissen von damals hatte sie die Nase voll von dieser Vergangenheit und besonders auch von Jeremys Filmplänen, die irgendwie mit alledem zusammenhingen. Damals hatte er ihr gesagt, die Sache sei nun erledigt – aber warum ließ er dann sein Drehbuch nicht einfach in der Schublade ruhen? Wollte er das Ganze erneut aufwühlen, sich in seinem uralten Jammer suhlen? Das hielt sie nicht aus. Vielleicht sollte er mal eine Psychotherapie machen. Aber wer weiß, welche Ideen ihm so ein Therapeut in den Kopf setzen würde. Pah, Therapie. Wenn sie wenigstens Kinder hätten, dann hätte Cathy etwas, was ihrem Leben Inhalt geben könnte. Aber selbst das brachte er nicht zustande. Okay, sie beide nicht. Aber mit einem anderen Partner hätte es vielleicht geklappt.

Bestimmt hätte sie sich eher mit Jeremys Filmprojekt versöhnen können, wenn der ursprünglich geplante Produzent Kim Park den Film wirklich hätte machen können. Ein intelligenter, athletischer, gut aussehender Koreaner, der einst beinahe Cathys Geliebter geworden wäre. Aber Kim lag im Koma, seit er zusammen mit Jeremy das Schiff der Geiselnehmer geentert hatte, um Cathy zu befreien, und ihn beim Kampf mit ihrem wahnsinnigen Entführer John Huang eine Kugel ins Hirn getroffen hatte. Irgendwo in einer Klinik in Shanghai stand ein Bett, in dem blicklos an die Decke starrte, was einst Kim Park gewesen war – angeschlossen an zahllose Maschinen wie totes Gemüse.

Sie schaltete den elektrischen Ofen an, in dem ein rotes Glühen aus Plastik den Eindruck erwecken sollte, es handele sich um echtes Feuer – typisch britischer Kitsch –, dann ging sie an ihren Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Sie schenkte sich ein Glas Chardonnay aus ihrem Geburtsland Kalifornien ein und scrollte durch ihre Mails. Das meiste war lästiger Müll, der es irgendwie geschafft hatte, ihren Spamfilter auszutricksen. Doch plötzlich leuchteten Cathys Augen auf. Eine Mail von Coco, der Modejournalistin und Cathys bester Freundin, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.

Hi Cathy, was machst du so in London? Hier in Shanghai ist gerade herrliches Frühlingswetter und jede Menge los – Partys, Einladungen, Modeschauen, man kommt aus dem Feiern gar nicht mehr raus. Aber bestimmt ist dein Leben mit Jeremy ähnlich aufregend. Wann kommt denn jetzt der Klapperstorch, hast lange nichts mehr von dir hören lassen! Weißt du schon, was es ist? Vielleicht kannst du ja vorher nochmal nach Shanghai kommen, würde mich jedenfalls freuen, dich endlich mal wieder in die Arme zu schließen!

Ich drücke dich schon mal ganz fest, deine Coco

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