Читать книгу Korea Inc. - Karl Pilny - Страница 18
Berlin, Insel Schwanenwerder
ОглавлениеJeremy schritt zwischen dichten Hecken, hohen Bäumen und Mauern sowie versteckt liegenden Villen entlang und suchte nach der Hausnummer 40a. Sie musste wohl am anderen Ende der kleinen Insel liegen, die seit über hundert Jahren über eine Brücke mit dem Festland verbunden war. Trotz all der Idylle von Natur und See hatte die Insel etwas Abweisendes, fast Bedrohliches. Kein Mensch war auf den Gehwegen zu sehen. Die Häuser lagen in ihren Verstecken hinter hohen Mauern und Hecken wie ausgestorben. An einem Hauseingang entdeckte er eine Überwachungskamera. An keinem einzigen der schmiedeeisernen Tore bemerkte er ein Namensschild. Wer hier wohnte, wollte ungestört bleiben. Jeremy kam sich wie ein böser Eindringling vor. Dabei war er nur auf der Suche nach seinen Wurzeln.
Er war mit der S-Bahn S 1 zum Bahnhof Nikolassee hinausgefahren und hatte sich dort ein Taxi genommen. Mehrfach hatte er noch versucht, Mie zu erreichen, doch ihr Telefon blieb ausgeschaltet. Er hatte halb gehofft, sie in der Hotellobby zu treffen oder zumindest von der Rezeption eine Nachricht zu erhalten, aber nirgendwo ein Zeichen von ihr. Ihm blieb die schwache Hoffnung, dass sie vielleicht tatsächlich um drei draußen am Wannsee auftauchte. Immerhin war Jeremys Anfrage das Letzte gewesen, was sie zusammen gesprochen hatten. Und sie hatte nicht Nein gesagt.
Jeremy hatte sich direkt an der Brücke absetzen lassen, um die Insel mit ihren rund vierzig Häusern zu Fuß zu erkunden. Erstaunliche Ecken gab es in Berlin. Er blieb vor den fünf blasslila Gedenktafeln stehen, die auf Deutsch und Englisch über Geschichte und Geschicke der Insel und ihrer Bewohner informierten, und studierte sie interessiert. Schwanenwerder, ein gerade mal 25 Hektar großes Eiland, war in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem findigen Kaufmann parzelliert und zu einem exklusiven Wohnort für die schnell wachsende Gruppe der neureichen Unternehmer und Bankiers deklariert worden. Darunter viele jüdische Familien wie die, der Jeremys Großmutter entstammte. Die Grundstücke waren begehrt: Man wohnte hier am Busen der Natur und dank der ausgebauten Zugverbindung vom Wannsee ins Zentrum war man schnell im Herzen der Hauptstadt.
Doch dann kam die Machtergreifung Hitlers. Die jüdischen Familien auf Schwanenwerder waren in den folgenden Jahren allesamt gezwungen worden, ihre Grundstücke zu verkaufen – meist zu Spottpreisen und an hochrangige Repräsentanten des NS-Staates. Albert Speer kaufte sich ein Grundstück, Hitlers Arzt Theodor Morell hatte hier gewohnt, und es hatte Pläne gegeben, dass der Führer selbst nach Schwanenwerder übersiedelte. Sein Propagandaminister hatte gleich mehrere Grundstücke auf der Insel besessen.
Jeremy hatte sich so in seine Gedanken verloren, dass er jetzt erst bemerkte, dass er eine Gabelung erreicht hatte und vor ihm wieder der Weg lag, den er vorhin gekommen war. Er begriff, dass die Inselstraße einen runden Bogen um die Insel schlug. Gegenüber, hinter einem hohen, mit Eisenspitzen besetzten Zaun, ein flacher weißer Bungalow mit der Hausnummer 10. Er musste also am Haus seiner Großmutter vorbeigegangen sein. Er wollte gerade umkehren, da nahm eine kleine Tafel am Hauseingang seinen Blick gefangen: „Hier wirkte Shepard Stone, ein Amerikaner von Geburt, ein Berliner aus Neigung“ und „Gründer des Aspen Institute Berlin“. Hier befand sich also die Berliner Niederlassung des Aspen-Instituts, einer US-amerikanischen Denkfabrik, die sich darauf spezialisiert hat, im Dialog mit Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik Wege zur Lösung der verzwicktesten politischen Probleme der Welt zu finden. Die Amis hatten eben ein Talent, sich die Filetstücke herauszupicken. Für ein Institut, das sich die Ermöglichung unmöglicher Treffen zum Ziel gesetzt hat und schon Begegnungen zwischen Arafats Palästina und Baraks Israel oder auch diskrete Gespräche zwischen Vertretern der USA und Nordkoreas vermittelt hatte, war es natürlich verständlich, dass es sich für derlei diplomatisch heikle Missionen lauschige Plätzchen fernab der öffentlichen Aufmerksamkeit suchte.
Im Bungalow hinter dem hohen, gusseisernen Zufahrtstor waren in allen Fenstern die Rollladen herabgelassen. Es wirkte unbewohnt, wozu indessen der metallicfarbene Wagen nicht passte, der, von Bäumen verdeckt, ein Stück oberhalb neben dem ebenfalls verlassen wirkenden weiß gestrichenen Nebengebäude parkte.
Was Jeremys Einbildungskraft im Moment aber stärker gefangen nahm als der Gedanke an die Rolle des Aspen Institute bei der Lösung der politischen Probleme der Gegenwart, war die Erinnerung daran, gelesen zu haben, wer lange vorher hier an der Stelle des jetzigen Aspen-Hauses gewohnt hatte. Nämlich der Mann, der einst in sein Tagebuch geschrieben hatte: „Wir werden als die größten Staatsmänner in die Geschichte eingehen oder als ihre größten Verbrecher“, und auch recht behalten hatte – mit Letzterem. Typisch deutsch, dass eine Gedenktafel dazu fehlte: Hier, Inselstraße 10, hatte sich einst der „Bock von Babelsberg“ seinen palastartigen Sommerwohnsitz eingerichtet. Nicht nur um die Aussicht zu genießen und dem deutschen Volk ein in den Wochenschaubeiträgen verbreitetes deutsches Familienidyll vorzugaukeln, sondern auch um seinen zahlreichen Affären mit den Damen der Berliner Filmwelt zu frönen.
Angewidert schüttelte Jeremy den Kopf. Ein hinkender Zwerg mit zu groß geratenem Kopf und Hakennase, der Propagandaminister der arischen Nation. Selbst war Goebbels das beste Beispiel dafür gewesen, was die Aufgabe von Propaganda ist: Ihren gleißenden Mantel so über die Wirklichkeit zu hängen, dass die Augen der Menschen für die Wahrheit geblendet werden. Eifrig hatte Goebbels mitgeholfen, Millionen Juden und andere „Nichtarier“ in die Gaskammern zu schicken. Nur wenige Hundert Meter von hier, im Haus der Wannseekonferenz, war all das beschlossen worden. Scheinbare Idylle und schlimmste Gräueltaten liegen oft nahe beieinander. Grimmig kickte Jeremy einen Stein über die Straße – er schlug mit dumpfem Knall gegen das gusseiserne Zufahrtstor des Aspen-Hauses. Volltreffer.
Hinter sich hörte Jeremy ein leises Pfeifen. Er fuhr herum. Aus dem Schatten eines niedrigen Umspannhäuschens, an dem ein großes Schild mit der Aufschrift „Hochspannung! Vorsicht, Lebensgefahr!“ prangte, hatte sich die Gestalt eines unauffällig grau gekleideten Mannes gelöst, der eine unmissverständliche Winkbewegung machte.
Jeremy wandte sich vom Haus weg und ging auf ihn zu. „Entschuldigen Sie, ich suche hier nur ...“
„Sie haben hier gar nichts zu suchen. Machen Sie, dass Sie wegkommen. Und hören Sie auf, hier mit Steinen um sich zu treten, wenn Sie sich keine Schwierigkeiten einhandeln wollen, ja?“
Jeremy konnte ein Pistolenhalfter an der Hüfte des Mannes erkennen. Was war das für ein Typ? Ein Polizist in Zivil? Das Haus wurde offensichtlich überwacht. Was lag da in der Luft?
Der Mann war wieder hinter das Häuschen getreten. Als Jeremy die Stelle passierte, wo er eben noch gestanden hatte, warf er einen neugierigen Blick nach rechts. Es war niemand mehr zu sehen. Seltsam.