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Küsnacht bei Zürich

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Der kurze Moment der erfüllenden Ekstase war schon von ihr gewichen, als sich sein schweißnasser Körper von ihr löste und zur Seite rollte. Klamm und klebrig, irgendwie schutzlos lag sie auf dem Rücken, und mit einem Mal waren auch die Sorgen wieder da, die sie eben noch himmelweit unter sich zurückgelassen geglaubt hatte.

„Musst du denn morgen früh wirklich nach London fliegen?“

Er zündete sich seine obligatorische Zigarette an. Fuhr sich durchs kurze, rötliche Haar. Lachte kurz auf. „Schatz: Wir haben doch alles durchgesprochen. Ich muss ehrlich sagen, ich bin ziemlich müde und morgen muss ich sehr früh raus und zum Flughafen.“

„Aber kann das nicht noch einen Tag warten? Jetzt, wo ich das alles zum ersten Mal ohne den Rat meines Vaters zu bewältigen habe, lässt du mich allein? Du weißt, wie überfordert ich mich fühle.“

Der schwere Herzinfarkt Beat Bodmers, der bisher die Bankgeschäfte ganz allein geleitet hatte, machte Chloe nach wie vor sehr zu schaffen. Ihr Vater schwebte zwar nicht mehr in akuter Lebensgefahr, aber er bedurfte auf strenge ärztliche Anweisung hin größter Schonung, auf seinen Beistand konnte Chloe also bis auf weiteres nicht rechnen. Umso mehr setzte sie auf Jonathan, der sich mehr und mehr zu Beats rechter Hand entwickelt hatte.

Jonathan strich ihr beruhigend durchs rote Haar. „Du schaffst das. Ich weiß das. Außerdem kannst du mich ja jederzeit anrufen.“

„Jederzeit? Du bist in letzter Zeit oft genug nicht zu erreichen. Und ich habe einfach dieses mulmige Gefühl. Nicht nur, was die Prüfung der Stiftung durch die Finanzaufsicht angeht. Sondern auch, was die Bankgeschäfte meines Vaters betrifft. Und ich habe erst angefangen, mich in die Unterlagen einzuarbeiten.“

„Es wird schon alles gutgehen, Chloe. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ Er nahm einen tiefen Zug von seiner Benson & Hedges.

„Sollten wir Jeremy nicht in die ganze Sache einweihen?“

„Auf keinen Fall!“ Er schüttelte heftig den Kopf. „So peinlich darauf bedacht, dass die Anlagen der Bank immer mit der Stiftungssatzung übereinstimmen, wie der ist, macht er uns eine Riesenszene.“

„Ich fände es trotzdem besser, wenn wir ihm gegenüber offener sein könnten. Er weiß ja nicht mal, dass wir schon seit Monaten ein Paar sind! Ich will unsere Beziehung nicht mehr verheimlichen.“

„Musst du auch nicht. Nicht mehr lange. Sobald Beat wieder auf dem Damm ist, sollten wir es ihm sagen und dann zügig die Hochzeit vorbereiten. Aber bis dahin möchte ich alle Irritationen mit Jeremy vermeiden. Du weißt doch, wie misstrauisch Jeremy sein kann, wie er nachbohrt, wenn er merkt, dass man ihm etwas verschweigt. Mein Gott, diese Hyperkorrektheit! Und das gerade in der Gao-Feng-Stiftung! Gao selbst hat doch mit seinen chinesischen Triaden früher ganz andere Dinge gedreht und ist darüber zu Reichtum gekommen. Jetzt ist er ein alter Mann und will mit der Stiftung sein Vermächtnis weißwaschen. Als Geldwäschebeauftragte der Century Bank weißt du besser als ich, dass nicht hinter jeder Geldverwendung für löbliche Zwecke gleich böse Hintergedanken oder die dunklen Schatten der Vergangenheit stecken müssen.“

Chloe hatte bisher eigentlich nicht den Eindruck gehabt, dass Jeremy übermäßig misstrauisch war. Und die letztlich wohl nicht ganz blütenweiße Herkunft der Gao-Feng-Reichtümer war ohnehin ein alter Hut: Kaum jemand, der in China ein Milliardenvermögen aufgebaut hat, dürfte das auf restlos saubere Weise getan haben. „Die Geschäfte, die Gao irgendwann mal getätigt haben mag, haben doch nichts mit der Stiftung von heute zu tun. Und deren Satzung sieht nun mal ausschließlich Anlagen vor, die in jeder Hinsicht ethisch vertretbar sind.“

„Ach, Chloe. Das ist doch Augenwischerei von vorgestern. Die Finanzwelt ist heute so schnell und unübersichtlich, dass sich das eine Geschäft nicht vom anderen lösen lässt. Ethisch vertretbar? Was heißt das schon? Ist unsre Finanzwelt an sich ethisch vertretbar? Keine Ahnung. Ich glaube, das ist eine falsche Begrifflichkeit. Wer mit dem Getreidepreis spekuliert, macht legale Geschäfte, verdient damit sein Brot. Dass infolgedessen irgendwo auf der Welt Menschen verhungern, weil sie ihr Brot nicht mehr bezahlen können ... Das ist wahrscheinlich, aber im Einzelnen so komplex, dass es nicht nachvollziehbar ist. Es gibt immer Gewinner und Verlierer. Damit die Finanzwelt funktioniert, muss sie über Leichen gehen – auch wenn sie meist schön unsichtbar bleiben –, wer da nicht mitmacht, hat im Bankgeschäft nichts verloren. Und was wäre die Alternative? Soll das Finanzsystem zusammenbrechen? Das würde nur noch mehr Leichen geben.“

Chloe schwieg. Sie kannte Jonathans zynische Ansichten. Da schwang immer auch ein wenig Bitterkeit mit, wie von einem enttäuschten Idealisten. Doch da war noch eine Sache, die ihr auf dem Herzen lag. „Ich habe heute mit Dr. Welti telefoniert. Er meint, er sei da auf ein paar Unklarheiten gestoßen und bräuchte Erklärungen. Ich habe gesagt, er soll sich morgen mit dir in Verbindung setzen.“

„Hast du gut gemacht. Typisch junger Paragrafenreiter, dieser Welti. Selbst noch grün hinter den Ohren und will anderen besserwisserische Vorschriften machen. Der aufgeblasene Wichtigtuer kann ruhig ein paar Tage schmoren. Ich fliege morgen erst mal nach London. Das hat alles noch Zeit, wenn ich zurückkomme. Dieser eitle Schnüffler!“ Mit Verve drückte er die Kippe im Aschenbecher aus, wickelte sich in die Decke und drehte sich demonstrativ zur Wand.

„Wie du meinst, Jonathan.“ Sie wusste, dass Jonathan den jungen Rechnungsprüfer von der Revisionsgesellschaft Fiducia sogar noch weniger mochte als dessen älteren Kollegen Stirnimann. Trotzdem schien ihr mehr hinter Jonathans heftiger Reaktion zu stecken als nur persönliche Aversionen. Es war letztlich Jonathan, der über das von ihm geleitete Londoner Büro der Century Bank den größten Teil der Anlagengeschäfte der Gao-Feng-Stiftung abwickelte, besonders was die üppigen Zinserträge anging. Chloe wusste, dass er bei diesen Anlagen beträchtlichen Geschäftssinn, aber auch eine nicht ungefährliche Risikobereitschaft an den Tag legte und außerdem die strengen ethischen Vorgaben der Stiftung sehr weit auslegte. Sie, die Tochter des Eigners der Century Bank, hatte aufgrund ihrer Position im Stiftungsrat und im Anlageausschuss diese Geschäfte mitzuverantworten, was für sie immer wieder einen schwierigen Spagat zwischen dem risikofreudigen Jonathan Creed und dem reichlich skrupulösen Geschäftsführer Jeremy Gouldens bedeutete. Das alles war lange gutgegangen, doch mittlerweile waren gewisse Unregelmäßigkeiten aufgetreten, die vor dem Geschäftsführer zu verbergen ihrer Ansicht nach nicht länger zu rechtfertigen war. Über diesen Punkt hatten sich Jonathan und Chloe schon des Öfteren gestritten. Jonathan hatte sie immer wieder davon überzeugt, dass es sich dabei nur um eine vorübergehende Angelegenheit handele und dass es besser sei, keine schlafenden Hunde zu wecken. Da hatte sie die Ankündigung einer Prüfung durch die Finma, die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht, vor kurzem kalt erwischt und eine hektische Betriebsamkeit in Gang gesetzt.

Der erregte Anruf von Dr. Welti heute ließ allerdings darauf schließen, dass besagte Spürhunde schon wach waren und Witterung aufgenommen hatten. Und auch wenn Jonathan ihr immer versichert hatte, dass diese Unregelmäßigkeiten erstens nahezu unmöglich zu entdecken und zweitens zwar „kreativ“ waren, aber nicht eigentlich „illegal“, deutete seine aggressive Reaktion doch darauf hin, dass auch er sozusagen Angst hatte, gebissen zu werden.

Und noch etwas beunruhigte sie. „Ich hab sie wieder gesehen.“

„Mh?“, murmelte Jonathan, schon halb eingeschlafen. Sie hatte ihn stets um seinen seelenruhigen Schlaf in jeder Situation beneidet.

„Die dunklen Männer. Als ich heute Abend aus der Bank bin, standen sie auf der anderen Straßenseite. Und als ich vorbeikam, haben sie mich komisch angelächelt und sich alle drei gleichzeitig tief verbeugt. Irgendwelche Chinesen oder so. Die sind mir jetzt schon öfter über den Weg gelaufen. Vielleicht waren es nicht immer dieselben. Erst war es auch nur einer. Und dann waren es zwei. Aber immer dieses Lächeln und die Verbeugung. Heute hatten sie auch so einen großen Hund dabei. Der hat nicht gelächelt. Der hat die Zähne gefletscht.“

„Ostasiaten machen sich nicht viel aus Hunden. Außer gegrillt. In Korea auch als Fleischauflauf oder erfrischender Sommereintopf.“

Sie ging nicht auf ihn ein. „Als ich vorbei war, hat der Hund hinter mir angefangen zu bellen. Ganz wild, wie wenn nachts ein Wachhund anschlägt. Ich hatte Angst, sie könnten ihn auf mich loslassen.“

„Kein Wunder, dass du schlecht schläfst, wenn du schon tagsüber auf offener Straße Alpträume hast. Ihr Schweizer mit eurer Fremdenangst! Die ganze Welt soll ihr Geld zu euch bringen, aber die Menschen selbst sollen gefälligst draußen bleiben. Weißt du eigentlich, dass du deinen ganzen Millionenreichtum, deinen Platinschmuck, dieses Haus in der teuersten Wohngegend am Zürichsee, dass du all das ebenjenen chinesisch aussehenden Männern verdankst, die ihr Geld so brav zur guten Familie Bodmer in die Schweiz bringen?“

„Vielleicht ist es gerade das, was mir Angst macht.“

Jonathan antwortete nicht. Während seine Atemzüge neben ihr gleichmäßiger wurden und schließlich in leises Schnarchen übergingen, wurde der Druck in ihrer Brust immer stärker, verwandelte sich in den Drang davonzurennen. Sie wusste, was sie jetzt tun musste. Sie ging ins Bad, drehte die Brause auf. Etwa eine halbe Stunde stand sie so da, ließ das Wasser laufen und rieb sich mit Seife, Shampoo und Körperlotion ein, bis sie wieder ruhig war. Sie trug ihr Parfüm auf, zog sich ein neues Nachthemd an, schlüpfte ins Bett. Ich hätte den Bettbezug noch wechseln sollen, dachte sie bekümmert, als sie in Jonathans beruhigendes Schnarchen eintauchte, doch ich will ihn nicht wecken. Im nächsten Moment war sie vor Erschöpfung eingeschlafen.

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