Читать книгу Korea Inc. - Karl Pilny - Страница 8
Berlin, Potsdamer Platz
Оглавление„Aber Japan hat doch aus dem Desaster von Fukushima zumindest ein wenig gelernt oder etwa nicht?“
Jeremy hörte höchstens mit halbem Ohr zu. Er fühlte sich leicht und glücklich. Die Welt um ihn herum erschien ihm immer noch unwirklich und sie schien zunehmend nur noch unwirklicher zu werden, aber das war okay so. Er genoss diese Welt. Wirklich.
Diese Stupsnase. Das feine Lächeln. So strahlende Augen.
„Somit hätte die Katastrophe letztlich doch etwas Gutes gehabt, auch wenn das vielleicht makaber klingt, nicht?“
J. D. hatte Jeremy an die reichhaltige Whiskyauswahl der Vox Bar erinnert und beschlossen, sich vom Experten eine vertiefte Einführung geben zu lassen. Dabei hatte sich allerdings herausgestellt, dass der feiste Koreaner auf diesem ihm fremden Gebiet erstaunlich schlecht geeicht war. Zunehmend war er in seinen Gesprächsbeiträgen unkonzentrierter und alberner geworden – natürlich stets ohne eine Miene zu verziehen. Und irgendwann hatte er sich einfach umgedreht und die asiatisch aussehenden Damen am Nebentisch angesprochen, die dort mit zwei europäischen Herren saßen.
„Auf alle Fälle ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass sich etwas Derartiges niemals wiederholt. Oder wie sehen Sie das?“
Es hatte sich ein Gespräch J.D.s mit den vieren am Nebentisch entwickelt und Jeremy war froh gewesen, den in diesem Zustand und an diesem Abend ohnehin lästigen J. D. los zu sein, aber bald hatten die vom Nebentisch ihre Stühle herübergezogen und sich vorgestellt: ein skandinavischer Dokumentarfilmer und ein deutscher Reporter für ein Reisemagazin, die mit den zwei Damen – wohl Vietnamesinnen – in nicht näher durchschaubaren Beziehungen standen. J. D. hatte Jeremy als renommierten Ostasienexperten vorgestellt, woraufhin beide Männer angefangen hatten, ihn mit Fragen zur aktuellen politischen Lage in Fernost zu löchern – wenn nicht gerade J. D. mit Wünschen im Hinblick auf Jeremys Whisky-Expertise dazwischenging.
„Jetzt empfehlen Sie mir doch mal so ein rauchiges Torfmonster von dieser schottischen Insel, von der Sie gesprochen haben.“
Jeremy konnte stundenlang mit Verve über politische Entwicklungen im Fernen Osten dozieren (seine Frau Cathy konnte ein Lied davon singen) und er liebte die theoretische und praktische Beschäftigung mit schottischem Whisky und inzwischen auch mit amerikanischem Bourbon, aber heute fiel es ihm in beiden Fällen schwer, sich auf die Thematik zu konzentrieren. Wollte er doch am liebsten einfach nur sitzen, schauen, zuhören und sich ungeahnt wohlfühlen.
Das schwarze Haar. Das runde Kinn. Dunkel leuchtende Augen.
Aber er musste sich zusammenreißen. „Fukushima, ja ...“, begann er. Wie war noch einmal die Frage gewesen? „Fukushima dürfte in der Tat einen Wendepunkt bedeuten, aber wohin die Wende geht und ob sie von Dauer ist, ist noch keineswegs gesagt. Vorher war die Anti-Atomkraft-Bewegung in Japan praktisch inexistent gewesen, jetzt wollen knapp siebzig Prozent den Ausstieg. Trotzdem ist Japan von einem Ende der Atomenergie viel weiter weg als ihr in Deutschland. Aber da hat es ja auch erst einen Ausstiegsbeschluss und dann einen Ausstieg vom Ausstieg und schließlich den Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg gegeben. Mit einer Energiewende, die mittlerweile auch wieder rückgewendet wird, so wie ich das mitbekommen habe, so dass nun sicher bald der Ruf nach dem Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg laut werden wird.“ Jeremy war verwirrt. War er so betrunken? Nein, er referierte die nüchterne Faktenlage der deutschen Energiepolitik. „Auch in Japan hat es unter der Regierung Naoto Kan einen Ausstiegsbeschluss gegeben, den hat die Regierung Abe aber wieder zurückgenommen, sehr zur Freude der daran nicht ganz unbeteiligten Atomlobby von Tepco und Co. Die sehr wirksame Pro-Atom-Propaganda von Wirtschaft und rechter Politik kann sich immerhin auf das nicht zu leugnende Faktum berufen, dass Japan – wie natürlich auch Deutschland – kaum eigene Bodenschätze oder Energieträger wie Erdöl hat, wobei Japans Insellage das Problem noch verschärft. Da ist es schwierig, dauerhaft auf die Option Atomkraft zu verzichten. Deutschland hat immerhin die Braunkohle, und ich finde ...“
„Rauchiges Torfmonster!“ J. D. schien den Begriff zu lieben.
... finde dich umwerfend. Willst du mir allen Verstand rauben?
„Aber politisch muss der Super-GAU doch Veränderungen bewirkt haben“, meldete sich der skandinavische Dokumentarfilmer dazwischen. Jeremy wollte seinen Blick auf ihn richten, aber er konnte ihn nicht von diesen Mandelaugen abwenden, die seit einiger Zeit nur stumm im Raum schwebten und ihn anlächelten. Er wollte in diesen Augen ertrinken und alles andere vergessen. Können Augen denn lächeln? Ja, entschied er, definitiv. Und kann man in Augen ertrinken? Auch das geht. Leider nicht ohne irgendwann wieder aufzutauchen.
„Ja, wie gesagt, Fukushima hat das Problem der Rohstoffknappheit nur verschärft und daher in vielen Punkten eher zu einer Radikalisierung geführt als zu einem Umdenken. Siehe die Streitereien mit China um die Senkaku-Inseln und weitere Gebiete, wo große Rohstoffvorkommen vermutet werden. Der Rechtsruck nach der erneuten Wahl von Shinzo Abe zum Premier hat zusätzliches Öl ins Feuer gegossen. Überall wird die Uhr zurückgedreht. Und die ultranationalistischen Kreise um das offiziell zerschlagene rechte Netzwerk Waguni träumen schon von einer nuklearen Bewaffnung. Im Land von Hiroshima!“ Jeremy nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Und was das Torfmonster betrifft“, wandte er sich an J. D., „ist der zehnjährige Laphroaig wohl nach wie vor unübertroffen – jedenfalls in seiner Preisklasse.“
Den halblaut gemurmelten Zusatz hatte J. D. nicht mehr gehört, der sich bereits erhoben hatte und zur Bar gewankt war. Jeremy machte sich allmählich Sorgen, dass der heutige Abend den Rahmen seines entsprechenden Budgetpostens doch deutlich sprengen würde. Gut, Geld war bei dem Film nicht das Hauptproblem, Gao Feng mit all seinen Reichtümern war entschlossen, das Projekt zu einem Erfolg zu machen, aber Jeremy war gewissenhafter Rechner und Haushalter genug, um darauf zu achten, dass alle Ausgaben in einem verantwortbaren Rahmen blieben. Schließlich musste er Gao Feng nicht nur über die korrekte und ethisch vertretbare Anlage der Stiffungsgelder, sondern auch über die Filmausgaben Rechenschaft leisten.
Der deutsche Reisejournalist nickte. „Ich bin mal gespannt, wie das mit den Senkaku-Inseln weitergeht. Klar, wenn die Arktis weiter abtaut, sind dort noch mehr Bodenschätze und Gasvorkommen zu holen – aber das dauert noch. Und der Wettbewerb ist größer, da sind noch Russland, die USA, Kanada; selbst wir in Europa versuchen ein Stückchen vom Kuchen abzubekommen. Die Senkaku-Inseln sind für China und Japan im wahrsten Wortsinn naheliegender.“
„Allerdings hat auch China jede Menge eigene Probleme“, warf der Skandinavier eifrig ein. „Dicke Luft durch Smog, Unruhen, Korruption, soziale Spannungen, Spekulationsblasen, Rufe nach mehr Demokratie, Separatisten, blutige politische Richtungskämpfe ...“
„Nicht zu vergessen an der Brust einen unberechenbaren Vasallenstaat wie Nordkorea, der ungehemmt nukleares Know-how zum Beispiel an den Iran und wer weiß wen noch liefert“, wusste der Deutsche hinzuzufügen. „Und wahrscheinlich am liebsten die Atombombe an alle verkaufen würde, die ihm die nötigen Devisen dafür verschaffen. Deswegen testen die sie ja! Eine Art große Werbevorstellung für interessierte Terroristengruppen und Schurkenstaaten.“
„Na ja, Nordkorea, halb so wild“, ging J. D. dazwischen, der nun wieder von der Theke zurückgewankt kam. „Dieser sehr verehrte Herr hier“ – er wies mit der Hand auf Jeremy – „und meine Wenigkeit werden in Kürze da hinfliegen. Und im Herbst wollen wir das Filmfestival in Pjöngjang besuchen. Und dann führen wir die entscheidenden Gespräche, die schließlich die Wiedervereinigung Koreas und überhaupt die Befriedung Ostasiens herbeiführen werden.“ Dazu nickte er gewichtig. Jeremy wusste natürlich, dass auch J. D. wusste, dass seine Worte bestenfalls aufgeschnitten, eher aber einfach irgendein Blödsinn waren, um sich wieder ins Gespräch zu bringen und die beiden meist schweigenden Vietnamesinnen zu beeindrucken. Wenn sie nicht schwiegen, tuschelten sie. Auf Vietnamesisch. Und kicherten.
„Ach, ist ja interessant“, sagte der Dokumentarfilmer. „Da müssen Sie mir mehr erzählen. Da wollte ich nämlich auch schon immer mal hin, zu diesen Filmfestspielen. Da laufen ja auch Dokumentarfilme. Natürlich nur Systemverträgliches. Und das gemeine Volk bekommt diese Filme ohnehin nicht zu Gesicht.“
Die Bedienung kam an ihre Tische und stellte sieben Whiskygläser ab, womit Jeremys Budgetpläne endgültig ruiniert waren. Mie lächelte leise und bestellte mit halblauter Stimme noch eine Tasse Grüntee. Mit einer leichten Handbewegung verrückte sie ihr Whiskyglas um einige Zentimeter in Jeremys Richtung. Sie brauchte nichts zu sagen. Er verstand sie, als kenne er sie schon seit Ewigkeiten.
„Was meinen denn Sie als Südkoreanerin zu meinem Plan, uns in Nordkorea nach Hilfe bei der Verfilmung von Yellow Submarine umzusehen?“, wandte sich J. D. plötzlich an Mie.
Mie, die sich wie die Vietnamesinnen eher darauf beschränkte, die Herren reden zu lassen, zog kurz die fein geschwungenen Brauen zusammen, als überlege sie. Dann legte sich wieder ihr Lächeln um ihre Lippen. „Im September? Beim Filmfestival? Soll denn der Film so lange warten?“ Sie warf Jeremy einen strahlenden Blick zu.
Jeremy, so gern er sich darin sonnte, verwirrte dieser Blick mehr als alles andere. „Nein, nein, das muss ... jetzt muss er das wohl nicht mehr.“ J. D. vergaß kurz seinen Rausch und musterte Jeremy verwundert, der weiter nach Worten suchte. „Ich glaube, wir können das jetzt so schnell wie möglich angehen und ...“
„Man kann doch mit diesem steinzeitstalinistischen Terrorregime unmöglich gemeinsame Sache machen!“, meinte da der deutsche Reisejournalist zum skandinavischen Dokumentarfilmer und verfiel in seiner Erregung in seine Muttersprache.
„Ich finde ...“, begann der andere, der offenbar Deutsch recht gut verstand, auch wenn er jetzt verzweifelt nach den entsprechenden Worten klaubte, um seinen Gedanken Ausdruck zu geben.
„Das auf keinen Fall“, antwortete Jeremy ebenfalls auf Deutsch. „Aber wer sich versöhnen will, muss aufeinander zugehen.“
„Oh, Sie sprechen Deutsch!“ Jeremy wiegelte ab: „Ein wenig ...“
„Nein, Ihr Deutsch ist ziemlich gut.“
Jeremy verfiel wieder ins Englische. „Vielen Dank fürs Kompliment, aber Sie übertreiben. Meine Großmutter stammte aus Berlin, musste aber wie so viele in den Dreißigern das Land verlassen. Sie ging nach England, traf meinen Großvater und heiratete ihn. Meine Mutter hat noch perfekt Deutsch gesprochen – ich habe von ihr und Großmutter zwar viel gelernt, das meiste aber später vergessen. Erst seit ich häufig in der Schweiz bin, habe ich viel getan, um mein Deutsch aufzufrischen: Sprachkurse besucht, deutsches Fernsehen geschaut und so weiter. Allerdings habe ich immer schon ein Faible für deutsche Kultur, Literatur und Musik gehabt.“
„Echt? Hier aus Berlin stammt Ihre Großmutter?“ Der Deutsche hatte seine Nordkorea-Empörung sogleich vergessen und fand nun Jeremys Herkunft wesentlich interessanter. Derweil begannen J. D. und der Skandinavier ein Gespräch über Whisky. Mies lebendige Augen richteten sich wieder auf Jeremy. Ihm wurde warm ums Herz.
„Ja, ich habe mir vorgenommen, morgen, an meinem letzten Tag in Berlin, ein wenig Familienforschung zu betreiben und auf den Spuren meiner Großmutter zu wandeln. Sie entstammt einer Bankiersfamilie und wohnte in einer Villa auf Schwanenwerder. Wissen Sie, wo das ist? Hier habe ich die genaue Adresse: Inselstraße 40a.“
„Ja, das ist eine Reichensiedlung draußen am Wannsee.“
„Wannsee, wo damals diese Konferenz war?“
„Nun gut, Berlin ist voller Orte und Namen, die mit schrecklichen Erinnerungen beladen sind. Aber das ist eine tolle Gegend dort draußen. Sehr viel Natur. Sie werden bestimmt einen schönen Ausflug haben, vor allem wenn morgen wieder so ein strahlender Februartag ist.“
„Ja, denke ich auch“, meinte Jeremy, bemerkte, dass sein Whiskyglas leer war und griff gedankenverloren nach demjenigen Mies, das sie in seine Richtung bewegt hatte. Er suchte ihre Mandelaugen, fand sie und wollte erneut darin ertrinken. Doch plötzlich schwand ihr Lächeln und ihre Augen wurden schwarz. „Ich muss jetzt leider gehen, es ist schon spät“, sagte sie und stand auf. „Ich höre von Ihnen, ja?“
J. D. wollte ansetzen, etwas daherzuplappern, aber Jeremy kam ihm zuvor. „Sie hören mit Sicherheit von mir, Mie. Mit Sicherheit. Aber können Sie nicht doch noch ein Weilchen bleiben?“
„Das ist leider nicht möglich.“
„Sehr schade. Aber ich darf Sie vielleicht hinausbegleiten?“
Sie zuckte die Schultern. „Das ist wirklich nicht nötig.“
Jeremy war schon aufgestanden und neben ihr. Draußen leuchteten hell die Lichter des Marlene-Dietrich-Platzes. Ganz Berlin war ein einziger Film. Und Jeremy und Mie waren die Hauptpersonen, die übrige Welt nur bedeutungslose Statisten. Kalt und klar war die Nacht, und wären die Lichter Berlins nicht so hell gewesen, Jeremy hätte hinauf in die Sterne und hinter den Sternen hinaus in die Unendlichkeit sehen können, die sich mit dem gesamten Universum rings um Berlin ballte, wie um es schützend zu wärmen.
Da brach es aus Jeremy heraus. „Wie wäre es, wenn Sie morgen mitkommen würden nach Schwanenwerder? Wir machen einen Spaziergang, ich zeige Ihnen das Haus meiner Großmutter, wir kehren irgendwo ein, essen eine Kleinigkeit ...“
Sie drehte sich um, lachte ihn an. „Wollen Sie das wirklich?“
„Ja, ich will, natürlich will ich. Sagen wir am Nachmittag, nicht zu spät, fünfzehn Uhr? Draußen am Wannsee?“
„Mal sehen.“ Sie zögerte, aber es war kein unwilliges Zögern. Eher ein einladendes Zieren, so kam es Jeremy vor.
„Oder sollen wir uns vielleicht besser irgendwo in der Stadt ...“
In diesem Moment wurde Jeremy von der Seite angestupst. Ein junger Deutscher, offensichtlich stark alkoholisiert. „Mann, he! Sind Sie nicht dieser Schauspieler, dieser ...?“, fragte er auf Deutsch.
„Bitte, was soll das, was für ein Schauspieler?“, antwortete Jeremy. Er hatte Mühe, höflich zu bleiben. Eben noch war er Mittelpunkt und Hauptrolle des Universums gewesen. Jetzt wünschte er sich nur noch raus aus diesem Film.
„Na siehste, er hat ’nen amerikanischen Akzent!“, lallte ein zweiter, der zum Anstupser hinzugetreten war. „Bingo, Volltreffer!“
„Was für ein Schauspieler, fragen Sie noch? Na dieser, dieser ... dieser Schauspieler halt. Aus Hollywood eben. Der, der, wo zur Berlinale gekommen ist.“
„Nein, bitte. Ich bin Brite und bitte um Respektierung meiner Privatsphäre.“ Die betrunkenen Deutschen murmelten etwas Unverständliches und wankten von dannen.
Als sich Jeremy mit einem teils ungehaltenen, teils verlegenen Lächeln wieder umwandte, war Mie in der Nacht verschwunden.