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Berlin, Hotel Grand Hyatt, Potsdamer Platz

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„Na dann: Cheers!“ Jeremy hielt dem kleinen Koreaner auffordernd sein Glas entgegen. Der schielte an ihm vorbei und verzog die Lippen zum Anflug eines Lächelns, das aber, wie immer wenn J. D. einmal lächelte, eher gezwungen als herzlich wirkte. Dann wandte er sich mit einer kleinen Verbeugung von Jeremy ab, legte die flach ausgestreckte rechte Hand unter sein Glas und wölbte die linke um es herum und nahm einen Schluck. Wieder fiel Jeremy die eigenartige, ironisch wirkende Art auf, wie J.D. die althergebrachten koreanischen Gepflogenheiten beachtete, die mittlerweile auch in Korea selbst mehr und mehr in Vergessenheit gerieten und daher im Ausland umso deplatzierter wirkten: Man schaut sich beim Prosten traditionell nicht in die Augen und zum Trinken dreht sich der Jüngere vom Älteren weg.

Jeremy nahm einen großen Schluck aus seinem hohen Glas. Er war ziemlich durstig, und so hatte er sich zunächst ein bayrisches Hefeweizenbier bestellt, bis er sich einen Überblick über die etwa 250 Whiskys der Bar verschaffen konnte.

„Ah, das war gut“, sagte er, als er das Glas absetzte. „Im Allgemeinen finde ich das deutsche Bier ja überschätzt. Da heißt es deutsche Bierkultur und so weiter, und dann bekommt man nur diese immer gleiche Plörre einer Handvoll Großkonzerne vorgesetzt. Da lob ich mir die Vielfalt in England, wo es noch im kleinsten Pub zwanzig Sorten gibt. Hier gibt es ja noch nicht einmal Real Ales! Pah, Bierkultur! Aber Weizenbier, zugegeben, das können sie.“

„Tja, da geht es mir ähnlich. Auch wenn ich am liebsten Soju oder Cheongju trinke, die koreanischen Reisgetränke, muss ich zugeben, dass der japanische ‚Kubota Manju‘-Sake hier auch ganz manierlich ist. Und obwohl man Reiswein dazu sagt, ist Sake im Grunde eher eine Art starkes Bier, wussten Sie das? Ich meine, viele Biere werden aus Reis gebraut und Sake eben auch, nur ist die Fermentation anders und der Sake alkoholischer. Wir trinken also irgendwie beide Bier.“

J. D. schien die Feststellung, dass beide irgendwie das Gleiche tranken, wichtig zu sein. „Ja gut“, sagte Jeremy, „dann werde ich mir noch einen Scotch dazubestellen – auch Bier. Nur eben destilliert.“

J. D., der eifrig nickte, schien die Ironie der Antwort entgangen zu sein. „Dann bestellen Sie mir doch einen mit, mein sehr verehrter Herr Jeremy Gouldens, Sie sind ja so ein großer Single-Malt-Experte.“

Jeremy war so unbescheiden, nicht zu widersprechen, und orderte für sich einen 21-jährigen Caol Ila, während er für J. D., den er mit den Rauch- und Torfaromen der Hebrideninsel Islay nicht überfordern wollte, einen alten Glenlivet aus dem Sherryfass wählte.

„Jetzt erzählen Sie mir doch etwas über die Dame, derentwegen wir hier sitzen und das Spesenbudget unseres Films strapazieren.“

J.D. nickte wieder. „Sie werden sie gleich kennenlernen. Kurze Geschichte: Sie hat vor etwa zehn Tagen bei mir in Hongkong vorgesprochen; momentan arbeitslose Nachwuchsschauspielerin, die nach einer Rolle sucht. Hatte den Tipp von einer Freundin, die sich schon um die Rolle bemüht hatte, aber aufgrund Ihrer, mein sehr verehrter Herr Jeremy Gouldens, besonderen, äh ... Vorgaben abgelehnt wurde. Hatte bei ihr das Drehbuch gesehen und war ganz begeistert. Ihre Referenzen waren allerdings etwas dürftig – eine Handvoll zweifelhafte Kleinstrollen in Billigproduktionen und Werbefilmchen. Auf ihr Drängen hin habe ich sie trotzdem Probe sprechen lassen, hübsch und selbstbewusst ist sie ja. Und da muss ich sagen: Schauspielen kann die Frau, alle Achtung! Das Drehbuch schien sie schon halb auswendig zu können. Vielleicht trotzdem etwas zu kindfraumäßig für die Rolle: Nach meiner bescheidenen Ansicht muss da eine richtige Powerfrau her. Immerhin, jetzt ist sie extra nach Berlin gekommen, und ich dachte, Sie sollten sie sich einmal ansehen.“

„Powerfrau?“, fragte Jeremy nachdenklich zurück. Kindfrau schien ihm da vielversprechender.

„Na klar, was denn sonst, all die Actionszenen.“ J. D. klopfte mit seinem leeren Sakeglas dreimal kräftig auf den Tisch. „Powerfrau!“ Dabei wirkte er irgendwie fordernd und zappelig.

Jeremy erinnerte die Geste daran, dass es nach den verwirrenden traditionellen Trinksitten Koreas als unhöflich gilt, sich nachzuschenken, weil man erst dem anderen nachschenkt, dessen Glas aber leer sein muss. Galt das bei traditionsbewussten Leuten wie J. D. dann auch für die Bestellungen in Bars? Hieß das nicht umgekehrt, dass es unhöflich war, den anderen durch ein nicht geleertes Glas warten zu lassen, bis er endlich bestellen konnte? Jeremy nahm einen mächtigen, leerenden Zug aus seinem Weizenglas. Ah, verflucht, die deutsche Kohlensäure! Er versuchte sein Aufstoßen unhörbar zu machen. Irgendeinen Höflichkeitsreflex musste er in der Tat ausgelöst haben, denn kaum hatte er das Glas abgesetzt, war J. D. aufgesprungen, um Nachschub zu holen. „Nochmal zwei solche internationale Bierchen“, sagte er mehr zu sich selbst, ehe Jeremy widersprechen konnte.

Während sich J. D. um neue Getränke bemühte, dachte Jeremy zum wiederholten Mal über die Besetzung seiner weiblichen Hauptrolle nach. Es stimmte, keine der bisherigen Anwärterinnen hatte ihn zu überzeugen vermocht. An jeder hatte er etwas auszusetzen gehabt, konnte genau begründen, warum es so jedenfalls nicht ging. Was nicht ging, wusste er jeweils genau zu benennen. Aber wenn J. D. dann fragte, wie sie stattdessen sein sollte, vermochte Jeremy keine konkrete Antwort zu geben. Offenbar wusste er es selbst nicht so recht. Jeremy nahm sich vor, in Zukunft mehr Kompromisse einzugehen, um den Film nicht weiter aufzuhalten. Aber – Powerfrau? Nein, eher etwas Zartes, Verletzliches. Unschuldiges. Ein geheimnisvoll dunkles japanisches Vögelchen, das hilflos im Netz flattert und dann zitternd in der Hand des Helden liegt, nachdem er es gerettet hat.

J. D. war wieder zurück, die hübsche, aber etwas überfordert wirkende Bedienung brachte Sake und Weizenbier, und das Gespräch ging auf andere Themen über. Nun war es schon weit nach 21 Uhr und die rätselhafte Kindfrau ließ weiter auf sich warten. Korea würde heute jedenfalls keinen Pünktlichkeitswettbewerb gewinnen.

Sie waren beim dritten Paar Weizenbier und Sake angelangt, als Jeremy klar wurde, dass er so nicht weitermachen konnte. Den Kampf 0,5-Liter-Weizenbier gegen 5 Zentiliter Sake musste er unweigerlich verlieren, er war schließlich kein Fass. Gegen den Drang zu rülpsen ankämpfend, zwängte er den Rest seines Glases zwischen die Dauben seines Leibes, machte J. D. unmissverständlich klar, dass er, als großer Bewunderer Japans, jetzt bitte auch auf Sake umsteigen wolle, und entschuldigte sich für einen Moment.

Da lob ich mir, wenn es schon absurde Trinksitten sein müssen, das britische Rundenzahlen, dachte er sich auf dem Weg zur Toilette. Da zahlt einfach jeder, sobald ein Glas leer ist, im Wechsel für je ein Getränk der anderen mit, und wenn einer nicht mitkommt, bleibt er eben vor einer Batterie sinnlos gefüllter Gläser sitzen.

Dann fiel ihm noch ein, dass er das mit dem „großen Bewunderer Japans“ vielleicht besser nicht hätte sagen sollen. Schließlich war ganz Korea vierzig Jahre lang japanisch gewesen, die Japaner hatten sich dort auf eine Weise verhalten, die nicht gerade dazu geeignet gewesen war, sich unter den Koreanern Freunde zu machen, und die gegenseitigen Animositäten waren nach wie vor groß, wie er oft genug selbst hatte erfahren müssen. Aber ... Ach, Teufel auch! Schließlich bezahlte er J. D. dafür, dass er sich hier in dieser teuren Bar teuren Sake hineinkippte und sich Jeremys Geschwätz anhörte.

Als er sich die Hände wusch, merkte Jeremy, dass er heute noch nichts Richtiges gegessen hatte und sich die drei schnell gestürzten Bier nun deutlich bei ihm bemerkbar machten. Gut, dass es jeder bei dem einen Whisky belassen hatte! Er goss sich kaltes Wasser über den Kopf. Es kühlte, ohne aber für Klarheit zu sorgen. Versonnen betrachtete er sein etwas verbraucht wirkendes Gesicht im Spiegel, machte sich dann auf den Rückweg zur Bar. Die Stimmen der Menschen rechts und links verschwammen zu einem wogenden Brausen und er schien wie auf Wolken durch die Reihen zu schweben.

Schwebend näherte er sich ihrem Dreier-Tischchen, wo bisher nur zwei Stühle besetzt gewesen waren und auch jetzt nur zwei Menschen saßen, und plötzlich wurde das Brausen zu einem tosenden Donnern und eine Trommel begann wilde Wirbel zu schlagen. Und im Getöse der Trommel rissen die Wolken auf und ein strahlender Sonnenschein durchdrang sie, dass es fast in den Augen schmerzte. Dann für einen Moment gespenstische Stille. Vom Tosen der rasenden Trommel einmal abgesehen. Aber das war nur sein Herz. Und dann war auch der Lärm wieder da, Menschen, die durcheinanderredeten und lachten, Gläser, die klirrten, im Hintergrund die gedämpfte Lounge-Musik, Stimmen, die einander zu übertrumpfen suchten. Alles aber wurde in weite Ferne gedrängt durch eine einzige glashelle, hohe Stimme, nicht laut, aber schön und vernehmlich wie eine Nachtigall.

„Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Herr Gouldens.“

Die zierliche Frau erhob sich, legte die Arme an die Seite, verbeugte sich tief. Dann lächelte sie ihn mit einem hintergründigen Strahlen an, präsentierte ihre Visitenkarte. Mie Chang und so weiter, Schauspielerin, eine Mobilnummer. Jeremy brauchte einen Moment, um aus seiner Erstarrung zu erwachen und ihr nun seine Karte zu reichen. So macht man das in Korea. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns.“ Jeremy vergaß, dass sie ja schon dort gesessen hatte und er aus ihrer Sicht nun der Neue war, der an ihrem Tisch Platz nahm. Verwirrt ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. Ihm gegenüber hob Mie die Grünteetasse, nahm einen kleinen Schluck, lächelte ihn an. In welchem Film war er da nur gelandet?

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