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Erster Teil Der Film Einen Tag zuvor, Berlin, Hotel Grand Hyatt
Оглавление„Ach, entschuldigen Sie, wie ungeschickt von mir.“
Der großgewachsene Mann mit den graublauen Augen hatte, während er sich suchend im Raum umsah, durch eine allzu heftige Ellbogenbewegung aus Versehen eine neben ihm vorbeieilende Gestalt gerammt, die ihrerseits seine Bewegung nicht bemerkt hatte, da sie gerade angestrengt damit beschäftigt war, bei ihrer erhöhten Geschwindigkeit nichts von dem randvollen Champagnerkelch in ihrer rechten Hand zu verschütten – eine Bemühung, die jene ruckartige Ellenbogenbewegung nun zum Scheitern verurteilt hatte.
„Tut mir sehr leid, ich hab Sie nicht gesehen.“ Mit verkniffener Miene blickte er ins zornige Gesicht einer hochgewachsenen Blondine mit schulterlangem Haar und einer Nase, die ihn, wiewohl im Grunde nicht unhübsch, eigentümlich an ein Ferkel erinnerte. Mit Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass er nur einige Tropfen über den Ausschnitt ihres schulterfreien Glitzerkleides verschüttet hatte, das ihren üppigen Busen ein wenig zu sehr zur Geltung brachte.
Das nun nicht mehr ganz randvolle Champagnerglas fest in der Hand, funkelte ihn die große Blonde zornig an. Dann rümpfte sie verächtlich die Ferkelnase, schimpfte etwas auf Deutsch, was der kantige Brite nicht recht verstand – „Schieb ab, Trottel“? – und verschwand hinter ihren drei schick gekleideten männlichen Begleitern, die sich nun dicht um sie scharten, um ähnliche Kollisionen fortan tunlichst zu vermeiden. Dann war sie auch schon davongerauscht. Die Dame hatte es offensichtlich eilig, sich in eine der geschlossenen Gesellschaften in den verschiedenen Konferenzräumen des ausgebuchten Hotels zu begeben.
Jeremy Gouldens war sich sicher, die nicht mehr ganz jugendfrische Blondine schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber woher kannte er sie nur? Eine typisch deutsche Walküre – vielleicht Sängerin in Bayreuth? Nein, nein. Er fuhr durch sein dünner werdendes, graumeliertes Haar, kratzte sich. Dann, als er begriff, schlug er sich mit der Hand an die Stirn. Nebenan im Theater am Potsdamer Platz feierte die Berlinale ihren letzten Abend, und er war im Hotel nun wirklich nicht der Einzige, der etwas mit der Filmindustrie zu tun hatte – vermutlich war es heute sogar schwer, überhaupt jemanden zu finden, der nicht auf die eine oder andere Weise mit der Medienwelt zu tun hatte. Ein Großteil der nationalen und auch ein Teil der internationalen Filmprominenz war in Berlin zu Gast – selbst George Clooney sollte gesichtet worden sein –, und natürlich konnte Jeremy die große Blonde nur irgendwo auf der Leinwand oder dem Bildschirm gesehen haben. Schließlich hatte er sich in den letzten Jahren, seit er häufig in der Schweiz war und viel mit Deutschen zu tun hatte, jede Menge deutsche Filme angesehen, schon um seine eingerosteten Sprachkenntnisse aufzubessern. Ach, kam ihm jetzt, war das nicht vielleicht diese Schauspielerin gewesen, die immer die tapfere Heldin ist und am Ende die Welt oder zumindest irgendwelche verfolgten Kinder, Flüchtlinge, Wale rettet? Wahrscheinlich hatte die bedeutende Dame seinen Rempler für die plumpe Anmache eines Autogrammjägers gehalten.
Wie auch immer, Jeremy hatte für große, blonde, europäische Schauspielerinnen momentan keinen Bedarf, selbst wenn sie erfahrene Weltenretterinnen waren. Er war auf der Suche nach einer eher zierlichen, schwarzhaarigen Schauspielerin mit asiatischen Zügen. Mit genau so einer sollte er heute nämlich verabredet sein.
Er sah auf die Uhr. Galten Koreaner nicht als besonders pünktlich? Ihm selbst war jedenfalls eingeschärft worden, bei Geschäftsterminen mit Koreanern immer pünktlich zu erscheinen. Nun gut, ein wirklich offizielles Treffen war der Termin heute auch wieder nicht.
Erneut ließ er seinen Blick über das in der Lobby versammelte internationale Publikum schweifen. Die Frauen schienen einander an Putz und Kleiderpracht übertreffen zu wollen; daneben wirkten die Herren in ihren dunklen Anzügen, an denen die Krawatte meist das Bunteste war, eher farblos und unauffällig. Seltsam, dachte Jeremy, dass es bei den Menschen in Sachen Schmuck und Schönheit genau umgekehrt ist wie bei Pfauen, Paradiesvögeln, Zierfischen oder fast überall sonst in der Tierwelt, wo das Männchen stets das auffälligere, buntere Wesen ist. Aber, Jeremy sei ehrlich, ist es im Grunde nicht gut so? Seitlich in der Tizian Lounge drängte sich das feiernde Publikum aus mehr oder weniger prominenten Gästen und sonstigen Medienmenschen, vermischt mit allerlei Schaulustigen beim „Celebrity spotting“. Durch die Kollision mit der Weltenretter-Walküre neugierig gemacht, vertiefte er sich in die wechselnden Bilder und Szenen vor seinen Augen und meinte nun, weitere vertraute Gesichter ausmachen zu können. Fast hatte er das Gefühl, sich selbst mitten in einem Film zu befinden. Als Statist? Oder würde nun gleich jemand mit einer Frage an ihn herantreten und die Kamera genau auf ihn zoomen?
Ach ja, der Film. Sein Film. Seit langem lag das Drehbuch zu seinem halbautobiografischen Filmprojekt Yellow Submarine in Jeremys Schublade – sowie in einigen anderen Schubladen von Produzenten, Agenten, Regisseuren, Schauspielern –, aber der Beginn der Dreharbeiten verzögerte sich weiter. Jeremy war eigens nach Berlin geflogen, in der Hoffnung, beim Filmfestival der Sache vielleicht den entscheidenden Ruck zu geben, aber nun war der letzte Berlinale-Abend gekommen und es hatte sich kein Erfolg eingestellt. Jeremy wusste, dass auch er an den Verzögerungen seinen Anteil hatte; vor allem mit seiner Pingeligkeit in gewissen Besetzungsfragen hatte er sich selbst Stolpersteine in den Weg gelegt.
„Ah, der sehr verehrte Herr Jeremy Gouldens, da sind Sie ja endlich!“ Der kleine dickliche Asiate mit seiner schrillen Krawatte legte die Hände an die Seite und machte eine betont tiefe Verbeugung. Jeremy wusste, dass J. D. Lee, der lange in Amerika gelebt hatte und nun seit Jahren in Hongkong residierte, äußerlich zwar viel Wert auf die traditionellen koreanischen Höflichkeitsformen und -formeln zu legen schien, sie in Wirklichkeit aber nur eher ironisch zitierte – vergleichbar einem älteren Wiener, der einer steifen Hamburger Dame scherzhaft einen Handkuss gibt. J. D. Lee war einer der albernsten Menschen, denen Jeremy je begegnet war, und doch tat er alles, was er machte, so lächerlich es auch sein mochte, im vollsten Ernst und ohne jemals zu lachen, so dass sich Jeremy manchmal fragte, ob sich J.D. dieser Lächerlichkeit überhaupt bewusst war. Trotzdem war er in seiner Arbeit ein hervorragender Mann; ein quirliger Mensch mit jeder Menge Kontakten, einer unermüdlichen Energie und einem sprühenden Ideenreichtum. An J. D. lag es jedenfalls nicht, dass die Umsetzung des Filmprojekts ins Stocken geraten war.
„Wo haben Sie denn gesteckt, ich habe Sie schon überall gesucht!“, fuhr der kleine Koreaner fort und runzelte dabei die Stirn, was spielerisch wirkte, ohne dass Jeremy sich da hätte sicher sein können.
Jeremy verkniff es sich, „Das Gleiche wollte ich Sie gerade fragen“ zu sagen, auch wenn es stimmte. Er hatte seit zwanzig Minuten mit seinen unübersehbaren 1,85 Metern hier am Empfang gestanden und die Eingangstür im Blick gehabt, und das konnte sich J. D. auch denken. Dem Koreaner war es offenbar lieber, eine Lüge in den Raum zu werfen, als sich für seine Unpünktlichkeit zu entschuldigen. Jeremy hakte die Sache ab, indem er sie unter dem Oberbegriff „Mentalitätsunterschiede der Völker“ katalogisierte – was diesen Punkt betraf, hatte er während seiner Aufenthalte in Ostasien so viele Erfahrungen gemacht, dass ihn nichts mehr wunderte.
Statt eine bloßstellend korrigierende Antwort zu geben, ging Jeremy lieber zur Gegenfrage über: „Wo haben Sie denn die koreanische Schauspielerin gelassen, mit der Sie mich heute unbedingt bekanntmachen wollten? Sie ist meine letzte Hoffnung, dass mein bisher ergebnisloser Berlinale-Besuch doch noch zu einem Erfolg wird.“
„Keine Sorge, die wird uns schon nicht im Stich lassen“, winkte J. D. ab. „Und selbst wenn – im Herbst ist wieder das Filmfestival in Pjöngjang. Da sollten wir auch hingehen. Dort können wir vielleicht erfolgreicher Kontakte knüpfen als hier auf der Berlinale. Sie wissen, Nordkorea ist ein filmbegeistertes Land, dessen Machthaber frühzeitig erkannt haben, welch wertvolles Propagandamittel der Film ist.“
„Im Herbst? Pjöngjang?“ Typisch für die jähen Sprünge, die J.D. machen konnte! Ganz ernst gemeint war das wohl nicht. J. D. hatte sicher seine Hintergedanken, warum er das Thema ansprach. „Bis dahin ist es aber noch ein ganzes Weilchen hin! Außerdem wird Ihnen als Südkoreaner in Nordkorea sowieso kein Visum erteilt.“
„Ach was, jemand wie ich kommt überall hin. Wenn ein bisschen Geld und Beziehungen im Spiel sind ... Und es könnte sich für uns auszahlen, auch da ein wenig die Fühler auszustrecken.“
Jeremy seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass J. D. von dieser abstrusen Pjöngjang-Geschichte anfing. Jeremy hatte J.D. Lee vor einigen Wochen in Hongkong kennengelernt, wo er auf der Suche nach einem gut vernetzten Insider aus der ostasiatischen Filmwelt gewesen war, der ihm bei der Realisierung seines Filmprojekts helfen konnte. Er brauchte einen „Fixer“, der alles zentral arrangierte, und J. D. schien ihm der richtige Mann zu sein. Um ihn zu engagieren, hatte Jeremy zunächst einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen und dabei den Mund vielleicht ein wenig zu voll genommen. Ambitioniertes internationales Filmprojekt, Schauplätze in Japan und China, Starbesetzung, Anspruch, Spannung und Hollywood-Qualität. Viel Arbeit warte auf J. D., aber auch viel Geld. Da hatte der rührige Koreaner zugeschlagen und sogleich allerlei Hebel in Bewegung gesetzt.
Der brisante politische Inhalt des Drehbuchs, das sich mit der Aufarbeitung der japanischen Kriegsverbrechen in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigte, hatte allerdings zur Folge, das viele der von J. D. geöffneten Türen sogleich wieder knallend zugeschlagen wurden. In Japan, so wurde schnell klar, war der Film nicht zu machen, und auch China zeigte sich zögerlich. Nachdem J. D. auch in seinem Heimatland Südkorea auf Schwierigkeiten gestoßen war, hatte er das Projekt ungefragt auch den zuständigen Stellen im Norden des geteilten Landes vorgelegt. Von dort wurde ihm signalisiert, dass man sich eine Realisierung, eventuell als international finanzierte Koproduktion, unter bestimmten Bedingungen vorstellen könne. Mit J. D.s Vorstoß vertraut gemacht, zeigte sich Jeremy entsetzt. Das vielleicht brutalste Regime der Welt an seinem Film profitieren und sein Drehbuch womöglich in ein antijapanisches Propagandamachwerk umfunktionieren lassen? Er hatte geglaubt, J.D., der in der Erfüllung seiner Aufgaben wenig Skrupel kannte, unmissverständlich klargemacht zu haben, dass etwas Derartiges mit ihm nicht zu machen war. „Ich habe Ihnen doch mehrmals gesagt, dass ich diese Nordkorea-Pläne nicht weiterverfolgen möchte“, betonte er.
J. D. verzog sein Gesicht. „Aber es sind nicht diese Nordkorea-Pläne! – Es sind jetzt andere.“
„Inwiefern denn? Dann schießen Sie mal los.“ Jeremys Stimme klang eher lahm als begeistert. Doch als Geschäftsführer der Gao-Feng-Stiftung, die sich unter dem Motto „Verarbeiten statt Vergessen“ die Versöhnung zwischen Japan, China und Korea zum Ziel gesetzt hatte und die über ein in Planung befindliches „Freundschaftszentrum“ womöglich bald schon auch in Nordkorea aktiv werden sollte, konnte er es sich nicht leisten, das Thema einfach zu übergehen. Zudem hatte er mittlerweile auch sozusagen literarische Interessen an dem in mehrfacher Hinsicht verschlossensten Land der Welt.
J. D. fuhr fort: „Sie haben bei unserer letzten Begegnung den Plan erwähnt, die für den Film so wichtigen historischen Rückblenden zu den Kriegsverbrechen Japans in China und Korea besser als Trickfilmsequenzen zu drehen, um sie nicht gar so brutal wirken zu lassen. Haben Sie schon von den SEK-Trickfilmstudios in Pjöngjang gehört?“ Jeremy schüttelte den Kopf.
„Aber Produktionen wie König der Löwen und Pocahontas sind Ihnen ein Begriff? Und all diese Zeichentrickserien, wie sie hier in Deutschland auf Kika rauf- und runterlaufen. Briefe von Felix?, Lauras Stern?“ J. D. ließ keine Gelegenheit aus zu zeigen, dass er sich in allen Bereichen des Business bestens auskannte.
„Sehe ich aus, als würde ich mir das deutsche Kinderprogramm ansehen? Aber was soll das alles mit Nordkorea zu tun haben?“
„Die SEK-Trickfilmstudios sind einer der wenigen legalen Bereiche der nordkoreanischen Wirtschaft, die richtig florieren. Wie Sie wissen, ist die Produktion von Animationsfilmen sehr arbeitsaufwendig. Und in Nordkorea kostet die Arbeitskraft fast nichts. Daher werden viele internationale Trickfilmproduktionen gegen harte Devisen in Nordkorea gezeichnet. Das zahlt sich für beide Seiten aus.“
Davon hatte Jeremy noch nichts gewusst. Die Vorstellung, dass abgehärmt-graue Nordkoreaner in freudlosen Räumen für einen Hungerlohn lustige bunte Bilder für die westlichen Traumfabriken zeichneten, die den verwöhnten mitteleuropäischen Kindern abends beim Chipsknabbern über die Glotze gaukelten, um ihnen vor Augen zu führen, wie gut und heil die Welt ist, erschien Jeremy grausig grotesk.
„Immerhin sind die Produktionsbedingungen in Nordkorea unglaublich günstig. Angeblich bekommt so ein nordkoreanischer Animationszeichner umgerechnet nur etwa drei Dollar im Monat. Das ist weltweit konkurrenzlos. Wir könnten in diesem Punkt viel Geld sparen und müssten dann in anderen Bereichen weniger knapsen.“
„Aber gibt es da nicht so etwas wie ein Embargo?“
„Ach was, Embargo. Wenn alle Engländer so zimperlich sind, verstehe ich nicht, wie ihr je euer Empire habt aufbauen können.“
„Trotzdem – eine Kooperation mit diesem heillos korrupten und bankrotten Land, wo alle gehirngewaschen sind und ständig der Strom ausfällt? Stelle ich mir sehr problematisch vor! Denken Sie nur an die Sache mit dem gewaltigen Ryugyong-Hotel in Pjöngjang, das seit Jahrzehnten im Bau ist und nun lange Jahre als Investitionsruine dastand, bis es die Kempinski-Gruppe 2013 eröffnen wollte. Aber die Kempinski-Leute verzweifelten an den Nordkoreanern und der ganze Deal ist geplatzt. Jetzt wird gemunkelt, die Nordkoreaner seien dabei, einen Teil des Gebäudes für diverse andere Zwecke einzurichten, aber das Ganze scheint mir sehr chaotisch zu sein.“
In diesem Bereich kannte sich Jeremy aus; ja, er konnte förmlich ein Lied davon singen. In einem Stockwerk des Hotels sollte nämlich das sogenannte „Freundschaftszentrum“ zur Annäherung und Versöhnung der beiden Teile des gespaltenen Landes entstehen, das von Jeremys Gao-Feng-Stiftung gefördert wurde. Der zugehörige Briefwechsel füllte schon viele Ordner, doch nach wie vor gab es unzählige offene Fragen und Unstimmigkeiten, die im Wesentlichen daraus resultierten, dass sich die Nordkoreaner von nichts und niemand in die Karten schauen lassen wollten und Jeremy keinen richtigen Ansprechpartner hatte, da die ohnehin schon verwirrenden Namen des vorgesehenen Leitungspersonals ständig wechselten. Trotzdem hatte er großes Interesse daran, das „Freundschaftszentrum“ im höchsten Gebäude der koreanischen Halbinsel Wirklichkeit werden zu lassen, jenem auch Hotel of Doom genannten Monstrum. Jeremy hatte Fotos gesehen: Wie ein riesiger schwarzer Vogel hockte das überdimensionierte Gebäude im Zentrum Pjöngjangs und wirkte in der Tat mehr wie ein düsterer Turm des Verhängnisses als wie der monumentale Prunkbau zum Preis der Größe Nordkoreas und seines gütigen Staatsgründers Kim Il Sung, als der es geplant gewesen war.
Als 1987 mit dem Bau begonnen wurde, hatte das Gebäude binnen zwei Jahren zum höchsten Hotel der Welt werden sollen. Bei Einstellung der Arbeiten 1992 war immerhin die Endhöhe von 330 Metern erreicht. Doch bis die Baumaßnahmen mehr als fünfzehn Jahre später wiederaufgenommen wurden, waren andere natürlich schneller gewesen. Jeremy musste an das Shanghai World Financial Center denken, ein Gebäude, das für sein Leben eine schicksalhafte Bedeutung angenommen hatte. Dort hatte man ähnliche Rekordpläne gehegt und nach Bauunterbrechungen den Kürzeren gezogen, am Ende war dabei jedoch eine lebendig genutzte architektonische Meisterleistung herausgekommen, während das nordkoreanische Pendant ein stummes Mahnmal geblieben war – und damit eine sinnlose Ruine und gigantische Geldverschwendung in einem Land, in dem sich ein Großteil der Bevölkerung noch immer von Gras und Rinde ernähren musste.
„Ich glaube nicht, dass man den größenwahnsinnigen Protzbau des Ryugyong-Hotels mit der Arbeit der SEK-Studios vergleichen kann“, riss ihn J. D.s Stimme aus seinen Überlegungen. „Dort hat man sich gezielt auf die Arbeit als Zulieferer eingerichtet. Da geht es um Devisenbeschaffung, nicht um Propaganda. Ich finde, wir sollten auf alle Fälle mal hinfliegen und uns das anschauen. Und Sie können gleich vor Ort für Ihr Romanprojekt recherchieren.“
Letzteres klang allerdings verlockend. Vor einigen Jahren, als Jeremy seine Anwaltstätigkeit für längere Zeit hingeschmissen hatte und auf einer Jacht durch die Südsee schipperte, um sich in der Nachfolge Jack Londons als Schriftsteller zu erproben, hatte er nicht nur an mehreren Roman- und Filmprojekten über Japan und dessen blutige Geschichte gearbeitet (aus denen dann das Drehbuch zu Yellow Submarine hervorging), sondern auch an einem weiteren Filmplot, das die Verwicklungen des geteilten Korea ins Zentrum stellte: Spionage, Entführungen, kriegerisches Kettenrasseln. Irgendwann hatte er den Entwurf, wie so viele andere auch, unfertig liegengelassen. Als nun der junge Diktator Kim Jong Un für eine neue Eskalation sorgte und dem Globus in Erinnerung rief, welches Pulverfass der ostasiatische Raum nach wie vor ist, und zur gleichen Zeit die Umsetzung seiner Filmpläne ins Stocken geriet, hatte sich Jeremy an den Korea-Drehbuchentwurf erinnert und beschlossen, ihn zu einem Roman umzuarbeiten. Dazu kam, dass Jeremy durch seine Stiftungstätigkeit und seine Zusammenarbeit mit der auf Ostasien spezialisierten Zürcher Century Bank immer wieder auch mit Korea und seiner fortdauernden Teilung konfrontiert wurde. In einigen Details war der alte Entwurf inzwischen zwar von der Geschichte überholt, aber von der Grundanlage her erschien er ihm aktueller denn je, und so hatte er sich in den Pausen, die ihm seine sonstigen Tätigkeiten ließen, erneut an die Arbeit gemacht, die gleichwohl noch nicht weit gediehen war. Ein Besuch des sozusagen letzten Landes hinter dem Eisernen Vorhang könnte seiner Arbeit vielleicht den entscheidenden Schub geben.
„Nun gut, ich glaube, Sie haben mich überzeugt. Wenn Sie Nordkorea besuchen wollen, komme ich mit. Ich wollte ohnehin zur Einweihung des Freundschaftszentrums nach Pjöngjang fliegen – wenn es jemals so weit kommt. Aber anrüchige Deals sind mit mir nicht zu machen. Kontakte knüpfen dagegen kann nicht schaden. Dann schauen wir uns im September eben dieses absurde Filmfestival an.“
„Nein, so lange will ich wirklich nicht warten, der Film ist ja jetzt schon in Verzug. Das organisiere ich uns gleich in den nächsten zwei Wochen. Auch wenn mich, unabhängig davon, das Festival natürlich reizen würde. Immerhin gilt der junge Oberste Führer als ein großer Filmfan, der auf James-Bond-Filme steht und die Sophie Marceau aus Die Welt ist nicht genug attraktiv findet. Vater Kim Jong Il hat das nordkoreanische Standardwerk über Filmkunst verfasst und sogar südkoreanische Filmstars in den Norden verschleppen lassen. Die Entführung des Filmtraumpaars Shin Sang Ok und Choi Eun Hee – er Regisseur, sie Schauspielerin –, die während ihres neunjährigen Zwangsaufenthalts in Nordkorea sieben Filme drehen mussten, darunter Pulgasari, die nordkoreanische Version von Godzilla, hat in den Achtzigern für Schlagzeilen gesorgt.“
Jeremy staunte immer wieder, mit welcher Leichtigkeit J. D. sein enzyklopädisches Filmwissen abspulen konnte. Die Geschichte von den Schauspielerentführungen kannte er allerdings schon aus seinen eigenen Recherchen: wahrlich der Stoff für einen Thriller.
Jeremy bedauerte, dass seine vielfältigen beruflichen Aktivitäten ihm nur wenig Zeit ließen, sich seinen literarischen Plänen zu widmen. Zum einen war da seine fortgesetzte Anwaltstätigkeit: Auch wenn er nun nicht mehr als Partner fungierte, so war er doch als „Of Counsel“ – also in beratender Funktion – weiterhin für seine alte Sozietät Lexman & Lexman tätig, die nun im 310 Meter hohen Büroturm „The Shard“ in London residierte. Daneben war er zudem ein gern gesehener Keynote-Speaker, der auf Konferenzen zum Thema Ostasien Vorträge hielt. In dieser Funktion war er gerade im Moment sehr gefragt. Schließlich war Ostasien ein Thema von ungebrochener Aktualität, und die Spannungen im fernöstlichen Bereich wuchsen. Viele Entwicklungen, vor denen Jeremy schon seit Jahren warnte, hatten sich unvermindert fortgesetzt und leider schien nun vieles so zu kommen, wie er es prophezeit hatte. Die Spannung zwischen den Koreas hatten sich verschärft, das Säbelrasseln zwischen China und Japan war selbst im fernen Europa unüberhörbar geworden und manche sahen aufgrund der Ähnlichkeiten zu 1914 gar den Dritten Weltkrieg heraufziehen.
Vor diesem Hintergrund wurde Jeremys dritte Hauptbeschäftigung, die Tätigkeit für die Gao-Feng-Stiftung mit Sitz im schweizerischen Zug und Büros in Zürich, Kyoto, Shanghai und London immer wichtiger. Schließlich war es Zweck der Stiftung, die unbewältigte Vergangenheit des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten und durch „Verarbeiten statt Vergessen“ zu einer Versöhnung von Tätern und Opfern von damals, von Japanern, Chinesen und Koreanern, beizutragen. Mit fünf Milliarden Dollar Kapital von ihrem Gründer, dem reichlich extravaganten greisen Chinesen Gao Feng, großzügig ausgestattet, widmete sich die Stiftung verschiedensten Projekten, wie etwa der Einrichtung von Informationszentren und Begegnungsstätten, darunter eben auch das geplante Freundschaftszentrum in Pjöngjang.
Als Geschäftsführer und Stellvertreter des Stiftungsvorsitzenden Gao Feng, der nach wie vor in Shanghai lebte, war Jeremy das Gesicht der Stiftung nach außen sowie oberste Kontrollinstanz nach innen und hielt sich deswegen häufig in der Schweiz auf. Einmal im Jahr, Ende Februar, flog er nach Shanghai, um Gao Feng den gemäß den strengen Satzungsauflagen der Stiftung jährlich anzufertigenden Ethikbericht vorzulegen. Schon bald sollte es wieder so weit sein. Daher würde es für Jeremy nach Verlassen der Berlinale nur für eine Stippvisite bei seiner Frau Cathy in London reichen. Ihre Ehe kam bei all den zu absolvierenden Terminen eindeutig zu kurz. Doch selbst für ein schlechtes Gewissen fehlte Jeremy meist die Zeit.
„Wo wir gerade beim Thema koreanischer Film und koreanische Schauspielerinnen sind – haben wir uns nicht verabredet, weil Sie mir eine solche vorstellen wollten?“, kam Jeremy auf den Ausgangspunkt ihres Gesprächs zurück. „Wo bleibt Ihr angekündigtes Wunderkind?“
J. D. Lee schlug sich mit der flachen Hand auf die gleichfalls recht flache Stirn. „Die hätte ich fast vergessen. Ja, wo bleibt sie ... Aber nur ruhig. Ich habe mich mit ihr für 21 Uhr in der Vox Bar verabredet. Da ist noch viel Zeit. Doch ich werde durstig. Ringsum Menschen mit Gläsern in der Hand, und meine Kehle ist trocken. In der Vox Bar haben sie immerhin eine anständige Sake-Auswahl, wenn auch keinen koreanischen Soju, wie ich zu meinem Bedauern festgestellt habe. Und es gibt über zweihundert Sorten Whisky.“ Letzteres überzeugte Jeremy. „Was stehen wir hier dann noch hier herum?“