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Berlin, Chinesische Botschaft

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Dr. Johannes Habrecht sah auf die Uhr. 12.40 Uhr. Dann würde er ja wohl bald erlöst sein. 12.45 Mittagspause. Alle Termine, die er bisher in der chinesischen Botschaft wahrgenommen hatte, hatten pünktlich begonnen und pünktlich ein Ende genommen. Darauf war Verlass. Erlöst? Zu Quallensalat und tausendjährigen Eiern mit Korff und Diethard Schischkoff, MdB: 13 Uhr Mittagessen, in der „Ming Dynastie“. Die Gespräche im Rahmen der Konferenz über die grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen in Ostasien wurden am Nachmittag fortgesetzt, da musste Habrecht aber nicht mehr mit dabei sein. Er hatte seine Aufgabe erledigt. Wie so oft zur allseitigen Zufriedenheit. Ob Schischkoff das ohne ihn wohl genauso gut hinbekommen hätte?

Johannes Habrecht ließ seinen Blick über den im würdevollen Rot der chinesischen Kaiserpaläste gestrichenen Saal schweifen. Die Mehrzahl der etwa achtzig Teilnehmer waren Deutsche und Chinesen, doch hatten sich neben der kleinen nordkoreanischen Delegation auch einige Amerikaner, Japaner und Südkoreaner unter das Publikum gemischt. Die meisten wirkten ähnlich gelangweilt wie er. Habrecht merkte, dass er dem zu Ende gehenden Vortrag des chinesischen Wirtschaftsattaches nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte. Worüber hatte er nochmal gesprochen? Habrecht war ein erfahrener Diplomat, und zu den wichtigen Befähigungen eines erfahrenen Diplomaten gehört es nun mal, zu wissen, wann man „scharfstellen“ muss und wann man abschalten kann. „Scharfstellen“, das war häufig nur eine Sache von wenigen Augenblicken. Der entscheidende Moment, in dem man die entscheidende Frage stellen muss. Wie bei Großkatzen, Geparden; den ganzen Tag dösen und lauern sie – das natürlich schon wesentlicher Bestandteil ihrer „Arbeit“, die auch sie gewissermaßen im Halbschlaf erledigen. Und dann der kurze, entscheidende Sprint, höchste Wachheit, höchste Konzentration, höchste Anstrengung von Körper und Geist. Dann ist die Beute erlegt. Oder auch nicht.

Was Habrecht anging, so war dieser wichtige Moment des Tages eine Phase von einigen Minuten in der Pause der Konferenz gewesen. Ein kurzes Gespräch mit dem nordkoreanischen Botschafter, dem Delegationsleiter und dem chinesischen Botschaftsrat. Es war Habrechts erstes Treffen mit dem neuen Botschafter gewesen, und als Delegationsleiter war statt des Habrecht seit langen Jahren bekannten Pak Song Rim unangekündigt sein junger Stellvertreter Lee Hyun Hae gekommen. Das Nichterscheinen Paks hatte Habrecht wenig verwundert. Pak war ein halbseniler Vertreter des alten Kaders, dem zudem ein gewisses Problem nachgesagt wurde und der vermutlich nur deshalb noch nicht ausgemustert worden war, weil er einer der wenigen niemals weggesäuberten Veteranen war, die als junge Kerle noch im Koreakrieg gekämpft hatten und durch die Hand des Großen Führers Kim Il Sung persönlich in Amt und Ehren gelangt waren. Inzwischen war er wohl zu alt, um einer Säuberung zum Opfer zu fallen, aber immer noch tauglich, um als Grüßaugust für irgendwelche scheinbar wichtigen diplomatischen Missionen in Erscheinung zu treten.

Habrecht hatte den jungen Botschafter als einen etwas gehemmten, nicht sehr entscheidungsfrohen Mann erlebt – damit entsprach er dem Bild fast jeden Nordkoreaners, den er in seiner diplomatischen Laufbahn kennengelernt hatte –, aber letztlich schien er ihm erfreulich zugänglich. Ein Pragmatiker, soweit er ihn durchschaute. Gehirngewaschen waren sie natürlich alle, lebten in einer Welt der Täuschung, wie man sie von außen kaum begreifen kann. Die eigentliche Überraschung war aber der stellvertretende Delegationsleiter Lee Hyun Hae gewesen. Ein gleichfalls junger, karrierebewusster Mann, offenbar aus dem direkten Umfeld Kim Jong Uns. Wenn er alles richtig anstellte und das entsprechende Maß an Ehrgeiz an den Tag legte – nicht zu wenig, aber keinesfalls zu viel –, könnte er noch weit kommen. Genauso wahrscheinlich war allerdings, dass er schon bald weggesäubert wurde – so, wie der Kerl vorgeprescht war. War das der frische Wind aus Pjöngjang? Johannes Habrecht, der sein Lebenswerk dem Versuch gewidmet hatte, die Welt, wie sie war, zu bewahren, und sie nicht noch schlimmer werden zu lassen, war das fast zu frischer Wind.

Nun gut, der junge Diktator wollte eben zeigen, dass er nicht einfach nur in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters trat, sondern sich über diesen Fußstapfen nach und nach auch eine eigenständige Gestalt zu erheben begann, die mit den ruhmreichen Leistungen von Vater und Großvater mithalten konnte. Ob sich in dem abgeschotteten Land nun wirklich etwas zu verändern begann? Gar zum Besseren? Oder zumindest zum Nicht-mehr-noch-Schlechteren?

Angenehm überrascht war Habrecht auch darüber gewesen, dass sich die von Walter Korff befürchteten Irritationen schnell als heiße Luft erwiesen hatten. Einige Feinheiten des Protokolls: Wem wann zuerst das Wort erteilt wurde, wer wo wann wem die Hand schütteln würde und derlei Kinderkram mehr, mit dem sich Habrecht nur zu gut auskannte. Die Punkte waren schnell ausgeräumt.

Wie erwartet beendete der Wirtschaftsattaché seinen Vortrag Punkt 12.45 Uhr. Im Hinauseilen wurde Habrecht vom Asienkorrespondenten einer großen Tageszeitung aufgehalten. Er servierte ihm einige jener vorgefertigten Gemeinplätze, die er für solche Gelegenheiten parat hatte und die im Grunde immer passen, und es gelang ihm, Routinier, der er war, allen heiklen Punkten und somit allen echten inhaltlichen Aussagen geschickt auszuweichen. Als er den Journalisten endlich abgewimmelt hatte, ging er zur Garderobe und holte seine Aktentasche. Wie immer hatte er das Gefühl, dass sie durchsucht worden war, weshalb er darin grundsätzlich keine vertraulichen Dokumente aufbewahrte. Dann schritt er auf die kleine Gruppe um den nordkoreanischen Botschafter zu. „Es ist mir eine Ehre, Sie heute zum Essen begrüßen zu dürfen“, wandte er sich an Delegationsleiter Lee Hyun Hae, von dem er vermutete, dass er der protokollarisch Ranghöchste war. „Herr Schischkoff von der deutsch-koreanischen Parlamentariergruppe wird gleich hier sein, um uns zu begleiten.“

Die Konferenzgäste hatten begonnen sich für die Mittagspause zu zerstreuen. Die meisten nutzten das bereitgestellte Catering im Bankettsaal der Botschaft, einige waren aber auch hinausgegangen, um auf dem Vorplatz eine Zigarette zu rauchen und die Strahlen der Vorfrühlingssonne zu genießen.

Habrechts Handy klingelte. Korff. Schon wieder. „Schischkoff und ich werden uns leider ein wenig verspäten, wir stehen im Stau.“ Korffs Stimme klang tonlos, fast mechanisch, wie immer. Habrechts für feinste Nuancen geschultes Gehör meinte trotzdem, eine gewisse Anspannung herauszuhören. „Am besten, Sie warten alle gemeinsam in der Botschaft auf uns. Es kann sich nur um Minuten handeln. Ach, und ist der Botschafter in der Nähe? Gut. Teilen Sie ihm bitte mit, dass er sich unbedingt sofort mit einem gewissen Kyok Kwon Il in Verbindung setzen soll, das ist sehr wichtig. Es gibt da Neues aus Pjöngjang. Alles klar? Also – Sie warten in der Botschaft, bis gleich.“ Korff machte eine Pause, um dann zögernd hinzuzufügen: „Oder gehen Sie selbst meinetwegen schon mal auf den Vorplatz und gönnen sich eine Zigarette. Aber erst geben Sie unbedingt dem Botschafter Bescheid!“ Eine gewisse Schärfe hatte in Korffs letzten Worten gelegen. Habrecht hätte noch Fragen gehabt, aber Korff hatte aufgelegt. Idiot.

Habrecht wandte sich an den Botschafter und gab ihm die Neuigkeit weiter. Als er die Bitte um einen Anruf bei Kyok Kwon Il äußerte, sah er, wie der Botschafter zusammenzuckte. Eher Unangenehmes also. Der Botschafter machte ein paar Schritte zur Seite, wo er, zur Wand gedreht, gestikulierend auf sein Handy einzureden begann. Das würde etwas Längeres werden. Lee Hyun Hae blieb, halb Habrecht, halb dem Botschafter zugewandt, unsicher lächelnd zwischen ihnen im Raum stehen. Auch er wirkte mit einem Mal angespannt.

Habrecht empfand es plötzlich als unhöflich, hier zu stehen und womöglich den Eindruck zu erwecken, die beiden Männer belauschen zu wollen. „I’ll be back in a minute“, sagte er zu Lee. „Just take your time and wait here.“ Der Diplomat schenkte ihm ein starres Lächeln.

Habrecht trat durch die verspiegelte Tür nach draußen. Rechts und links die beiden schwarzen Skulpturen chinesischer Wächterlöwen, die die Botschaft vor allen Gefahren beschützten. Ein dritter thronte hoch oben auf der weißen Säule links der Eingangstür. Habrecht blickte über den kleinen Polizeistand auf der anderen Straßenseite hinweg auf die Spree. Nicht nur die Löwen bewachten die Botschaft. Der Polizist war gerade aus seinem Unterstand getreten und hatte die Straße überquert, um mit seinem Kollegen drüben ein paar Worte zu wechseln. Sie steckten die Köpfe zusammen und lachten. Die Februarsonne strahlte frühlingversprechend herab und alle Menschen waren guter Dinge. Was für ein herrlicher Sonnentag! Habrecht warf einen Blick auf die Uhr. Punkt eins. Eine Handvoll Männer in dunklen Anzügen standen auf dem umzäunten Vorplatz verteilt, unterhielten sich, einige rauchten. Habrecht zog eine Zigarette aus dem Päckchen in seiner Jacketttasche. Die erste des Tages. Seit jeher rauchte er die alte Ostmarke „Cabinet“, die zusammen mit ihm die Wende überlebt hatte.

Woher Korff das mit den Neuigkeiten aus Pjöngjang wohl hatte? Und warum hatte Kyok seinen Botschafter nicht einfach selbst angerufen? Korff und seine zwielichtigen Geheimnisse!

Habrecht kannte Kyok nur flüchtig, wusste aber einiges über ihn. Offenbar war er zusammen mit der Delegation in Deutschland eingetroffen. Nicht zum ersten Mal. Nach außen hin war Kyok ein höherer außenpolitischer Diplomat, der politisch vor allem durch markige Sprüche bei gleichzeitiger Tatenlosigkeit auffiel. Eindeutig einer von der Betonkopffraktion, mit engen Kontakten bis in höchste Militärkreise. Habrecht vermutete, dass ihm sein diplomatisches Agieren hauptsächlich als Tarnmantel für allerlei windige Geschäfte diente. Geldschiebereien, Devisenbeschaffung, mit dem Embargo belegte Luxusgüter besorgen. Korff, der Kyok schon aus DDR-Zeiten kannte, hatte näher mit Kyok zu tun, wahrte darüber aber eisernes Stillschweigen. Noch so ein windiger Kerl. So gesehen passte es, dass Korff im Auftrag Kyoks anzurufen schien. Zwei Schurken unter einer Decke.

Unter der Jannowitzbrücke passierte das Ausflugsschiff mit der Aufschrift „Alexander von Humboldt“, das Habrecht schon mehrmals aufgefallen war. Habrecht war öfters zu allerlei Anlässen in der chinesischen Botschaft. Um 13 Uhr war Mittagspause und immer Punkt 13 Uhr fuhr dieses Schiff vorbei. Deutschland, Land der Pünktlichkeit – da fahren selbst die Ausflugsdampfer auf die Minute genau. Nur die Ostasien-Diplomaten sind nicht pünktlich. Zumindest nicht heute.

Jetzt galt es also nur noch, den Quallensalat im Lokal nebenan hinter sich zu bringen. Voller Vorfreude dachte er an die Wiederbegegnung mit seiner Tochter heute Abend. Was Katharina wohl zu berichten wusste? Sie war jetzt im vierten Semester, nicht? Wie doch die Zeit verging. Ehe man sich’s versah, gehörte man zum alten Eisen.

Wieso wechselt das Schiff auf einmal seinen Kurs? Ist der Kapitän volltrunken? Sieht fast so aus, als wollte der hier mitten auf der Havel wenden. Der hat Nerven. Kommt der schnurstracks ...

Ein greller Blitz und ein ohrenbetäubender Knall. Ein heftiger Schlag seitlich ins Gesicht und vor die Brust schleuderte ihn nieder. Dr. Johannes Habrecht sah noch kurz seinen offenen Bauch und was da alles hervorquoll, er wollte schreien, aber da war nur unendliche Stille und Dunkelheit um ihn. Und er konnte sie nicht aufhalten.

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