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2. Die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen
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Betreibt der Schuldner ein Unternehmen, muss mitunter binnen Stunden nach Antragseingang dafür gesorgt werden, dass die potenzielle Insolvenzmasse gesichert, der Geschäftsbetrieb aufrechterhalten und die Arbeitnehmer und Gläubiger beruhigt und aufgeklärt werden. Für eine Insolvenzeröffnung ist es meistens zu früh, denn in der Regel kann man noch nicht absehen, ob tatsächlich ein Eröffnungsgrund gegeben ist (§ 16 InsO) und die Verfahrenskosten gedeckt sind (§ 26 InsO). Besteht hinsichtlich der Zulässigkeit des Antrags zwar noch keine letzte Gewissheit, aber zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit, darf das Insolvenzgericht bereits Sicherungsmaßnahmen anordnen, wenn der Insolvenzantrag glaubhaft ist und im Wesentlichen als zulässig bzw weder rechtsmissbräuchlich noch offenkundig rechtswidrig erscheint[3]. Das Eröffnungsverfahren soll dem Gericht gerade ermöglichen, sich die letzte Gewissheit (im Sinne von § 286 ZPO) über die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags zu verschaffen, so dass Sicherungsmaßnahmen im Sinne von § 21 InsO schon vor der endgültigen Klärung der Zulässigkeit eingesetzt werden können, um die Gläubigerinteressen zu schützen[4]. Ein häufiges Beispiel ist die Frage der (internationalen) Zuständigkeit, vor deren Beantwortung bereits ein vorläufiger Insolvenzverwalter (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO) bestellt werden kann[5].
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Die Intensität der gemäß § 21 InsO angeordneten Sicherungsmaßnahmen sowie die Befugnisse des vorläufigen Insolvenzverwalters hat das Gericht vom Gefährdungsgrad der späteren Masse abhängig zu machen. Je ungeordneter und undurchsichtiger die Verhältnisse sind, desto mehr hat man die Rechtswirkungen der Verfahrenseröffnung vorzuziehen. Bei der konkreten Ausgestaltung der Sicherungsmaßnahmen ist jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten[6], so dass stets die Erforderlichkeit und Geeignetheit im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation zwischen Maßnahme und Schuldnerinteressen zu prüfen ist[7]. Jene lässt sich in materieller Hinsicht am Konkretisierungsgrad der für die Gläubiger bestehenden Gefahr ablesen[8]. Dem Schuldner (bzw den organschaftlichen Vertretern) steht gegen den Anordnungsbeschluss die sofortige Beschwerde zu, § 21 Abs. 1 S. 2 InsO.
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Die Sicherungsmaßnahmen sind während der gesamten Dauer des Eröffnungsverfahrens von Amts wegen auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben, zu mildern oder zu verschärfen. Der Schuldner soll zwar vor dem Erlass von Sicherungsmaßnahmen gehört werden (Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG), davon ist aber meistens abzusehen, weil es dadurch zu einer Verfahrensverzögerung und damit einer Massegefährdung kommen kann, § 10 InsO. Wird der Insolvenzantrag abgewiesen, sind die Sicherungsmaßnahmen unverzüglich wieder aufzuheben, § 25 Abs. 1 InsO. Es ist zu beachten, dass Haftungsansprüche nach § 839 BGB, Art. 34 GG drohen, wenn Sicherungsmaßnahmen schuldhaft unterbleiben oder ohne konkrete Gefährdung angeordnet werden[9]. Der Schuldner selbst kann dagegen sofortige Beschwerde (§ 21 Abs. 1 S. 2 InsO) einlegen, wobei die Beschwer mit Insolvenzeröffnung infolge des Wegfalls der vorübergehenden Maßnahmen entfällt und ein Fortsetzungsfeststellungsantrag nur in wenigen Ausnahmenfällen statthaft ist[10].
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Wirksamkeit erlangen die Sicherungsmaßnahmen, sobald der Anordnungsbeschluss existent ist, § 27 Abs. 3 InsO analog[11]. Das gilt auch für die Anordnung eines Verfügungsverbotes nebst Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters, denn weder Zustellung noch Bekanntmachung (§ 23 Abs. 1 InsO) stellen Wirksamkeitsvoraussetzungen dar[12]. Steht die Begründetheit des Eröffnungsantrags fest und wird das Insolvenzverfahren eröffnet, bedarf es keiner gesonderten Aufhebung der Sicherungsmaßnahmen mehr.
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Unstatthaft ist das von Insolvenzantragstellern vielfach gewünschte „Liegenlassen“ eines Antrags in der Erwartung, der Schuldner werde seine Verbindlichkeiten aufgrund des Antragsdrucks kurzfristig bezahlen und sich das Verfahren erledigen (s Rn 84). Der Schutz der Gläubiger, die in der Zwischenzeit Geschäfte mit dem Schuldner tätigen (zB Umschuldungen), steht dem entgegen; gerade deswegen hat das Gericht von Amts wegen zügig zu ermitteln und das Verfahren zu eröffnen, sobald die Eröffnungsvoraussetzungen gegeben sind[13]. Eine Ausnahme gilt nur, wenn die finanzielle Erholung sehr zeitnah erfolgen kann, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht und den Gläubigern zumutbar ist[14]. Auch zu Gunsten der Masseanreicherung durch Betriebsfortführung unter Aufsicht eines vorläufigen Insolvenzverwalters ist eine Verzögerung des Eröffnungsbeschlusses zulässig[15], nicht aber um dem Schuldner im Eröffnungsverfahren Zeit zu verschaffen[16]. Erleiden Gläubiger in der Zwischenzeit einen Schaden, weil sie beispielsweise dem Schuldner in Unkenntnis der Situation Kredit gegeben haben, kommen Haftungsansprüche nach § 839 BGB, Art. 34 GG in Betracht.
§ 4 Das Insolvenzeröffnungsverfahren › II. Die Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters