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1. Was heißt ästhetische Bildung?
ОглавлениеDas »postmoderne« Krisenbewusstsein hat eine neue Hinwendung zum Ästhetischen vorbereitet als eine wachsende Sensibilität für den Zusammenhang von Form und Inhalt, von Innen und Außen, von Vernunft und Praxis. Gleichwohl kann kein allgemeiner Konsens vorausgesetzt werden, was »ästhetische Bildung« bedeutet (zur Vielschichtigkeit des Begriffs vgl. GÄRTNER 2009). Um einer Engführung ästhetischen Lernens vorzubeugen, ist es hilfreich, drei Dimensionen ästhetischer Bildung zu unterscheiden: ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit, ästhetische Gestaltungsfähigkeit, ästhetische Urteilsfähigkeit.
Ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit
Dem ursprünglichen Wortsinn nach bedeutet ästhetische Bildung so viel wie Bildung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit (griech. aísthesis = Wahrnehmung) und zielt auf die Erweiterung und Übung von Wahrnehmungsmöglichkeiten und die Fähigkeit zur Wahrnehmungskritik. Ein solches Ästhetikverständnis lässt sich auf Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1765) zurückführen. Aus erkenntnistheoretischem Interesse rehabilitiert Baumgarten alle jene Sinneseindrücke, die nicht von mathematischlogischen Wissenschaften erfasst werden, und weist ihnen unersetzliche Bedeutung zu. Ästhetische Bildung dient in einem solchen Sinne der Erweiterung und Entgrenzung von Erkenntnis und erinnert an die Vielschichtigkeit menschlicher Erkenntnis (zur praktisch-theologischen Rezeption von Baumgarten vgl. u. a. GRÖZINGER 1991, 111–116; BIEHL 1989, 4). Religionsdidaktisch gewendet, bedeutet ästhetische Bildung in diesem Sinne: umfassende Wahrnehmungsschulung und damit Sensibilisierung für die Vieldimensionalität von Welt und Leben. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, das alltägliche Leben neu und anders und achtsam wahrzunehmen. Ästhetische Wahrnehmungsschulung umfasst sowohl Sensibilisierung der Sinnlichkeit als auch die Infragestellung und Irritation von Wahrnehmungsgewohnheiten wie die Förderung neuer Welt- und Selbstwahrnehmung. Darin drückt sich eine besondere Beziehung zur Welt und zum Leben aus: Konkretes Wahrnehmen, das sich einlässt, sich behutsam und aufmerksam an Welt annähert, auch an ihre Widerstände, Widersprüche und Fremdheiten (vgl. RUMPF 1994, 237 f. und 2005, 258 f.), ist gemeint, nicht eine distanzierte, »extramundane« Beobachtung, die sich auf vereinnahmendes Bescheidwissen beschränkt. Das hier gemeinte Weltverständnis sieht George Reilly als »ein prinzipiell affektives und praktisches Verwickeltsein des Menschen in der Welt« (REILLY 1988, 56).
Wenn ästhetische Bildung die Wahrnehmung und mit ihr Achtsamkeit und Aufmerksamkeit fördern will, dann hat sie die Lernenden als eigenständige und unverwechselbare Persönlichkeiten im Blick und will ihre Subjektwerdung unterstützen. Dies steht in Spannung zu einer schulpädagogischen und politischen Tendenz, Bildung durch messbare Standards zu normieren und auf kontrollierbare »Outcomes« zu reduzieren (vgl. KAHLERT 2005, 105; s. I.6).
Ästhetische Gestaltungsfähigkeit
Ästhetische Bildung beschränkt sich nicht auf aísthesis im wörtlichen Sinne, sondern weist über sinnliches Wahrnehmen hinaus auf ästhetisches Gestalten von Wirklichkeit (poíesis) und eröffnet Raum für das Mögliche und Erhoffte. Ästhetisches Gestalten ist Ausdruck menschlicher Freiheit und Würde. Das gilt besonders augenfällig für das Spielen, Musizieren, Malen, Plastizieren, Erzählen, Textgestalten und die rhythmische Bewegung, ebenso wie für den ganzen Bereich der ästhetischen Alltagspraxis (Wahl der Frisur, der Kleidung, Wohnraumgestaltung, Gestalten eines Festes, eines Essens, von Beziehungen, von Zeit etc.) (vgl. KLAFKI 1993, 28). Kein Bereich von menschlicher Erfahrung ist davon ausgenommen, auch nicht der von Religion, Politik, Ökonomie und Gesellschaft. Ästhetisches Gestalten bezieht sich auch auf Möglichkeiten, Wirklichkeit neu und menschlicher zu gestalten. Ästhetische Bildung wird dann ihrem Anspruch gerecht, Bildung zu sein, wenn sie auch kritisches Bewusstsein fördert, wenn sie zugunsten der Freiheit des Subjekts und zugunsten von universeller Solidarität die Kinder sensibilisiert für manipulative Verwendungsmöglichkeiten von Kunst im engeren Sinne und von anderen ästhetischen Mitteln, wie z. B. von Werbung und Propaganda. Damit ist schon ein weiteres Merkmal von ästhetischer Bildung angesprochen.
Ästhetische Urteilsfähigkeit
Ästhetische Bildung umfasst auch die Förderung von ästhetischem Bewusstsein und schließt damit Rationalität und Aufklärung ein und findet in ihnen konstitutive Elemente, die den Prozess des ästhetischen Erfahrens mit bedingen, tragen und auch verändern. Es kann nicht von Bildung gesprochen werden, wenn Ästhetik auf die bloße Schulung von Sinnesorganen oder auf ein Produzieren von Objekten beschränkt bliebe. Menschliche Wahrnehmung enthält immer auch Momente des Erkennens, Denkens, Deutens und Fühlens. Als ästhetische Wahrnehmung führt sie auch zu ästhetischer Urteilsbildung (kátharsis).
Ästhetische Bildung meint somit auch Stellungnahme und begründete Positionierung. Sie ist bezogen auf das Ganze der menschlichen Existenz und fragt nach Qualität und Ausrichtung auf gutes menschliches Leben hin. Die Bildung ästhetischer Urteilsfähigkeit setzt voraus, dass jeder Beteiligte seine eigenen Erfahrungen in die Kommunikation über ästhetische Erfahrung einbringen kann, ohne Zwang und Bevormundung, auch im Interesse eines kommunikativen Suchens von Wahrheit.
Zusammenfassend lassen sich damit drei aufeinander bezogene Dimensionen ästhetischen Erfahrens für die ästhetische Bildung unterscheiden:
die wahrnehmend-rezeptive Dimension (aísthesis)
die gestaltend-produktive Dimension (poíesis)
die urteilende und kommunikative Dimension (kátharsis).
Ästhetische Urteils-, Gestaltungs- und Wahrnehmungsfähigkeit sind zwar voneinander unterscheidbar, bleiben aber ineinander verwoben.