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3. Anregungen für den Religionsunterricht in der Grundschule
ОглавлениеAufmerksamkeit und Achtsamkeit lernen mit allen Sinnen
Ästhetisches Lernen wird nicht selten eingeschränkt auf reine Sinnesschulung: Sehen – Hören – Riechen – Tasten – Schmecken – Fühlen – Empfinden. Solche Sinne sind »Tore zur Welt« und gleichzeitig auch Tore zur Innenwelt des Selbst. Sie helfen, Welt und Leben wahrzunehmen, zu bestaunen und zu befragen und so auch das Sinnliche in seiner bloßen Dinglichkeit zu transzendieren. Wache Blicke, geschulte Ohren, eine gute Nase und die Fähigkeit, sich einzufühlen, sind Voraussetzung zur Wahrnehmung und können das Ich vor Abschottung und Selbstbefangenheit bewahren. Es geht dabei nicht um das Training isolierter Fähigkeiten oder um reine Sinnesschulung. Religionsdidaktisch geht es um das Entwickeln von Aufmerksamkeit und von Interesse für das, was außen und innen das Leben ausmacht, was es fördert und hindert, für das, was gegeben und was aufgegeben, was zu bejahen und zu verändern ist.
Wo nichts wahrgenommen wird, wird auch das Erfahren dürftiger – im Zusammenleben mit Freunden, in Situationen, in der Begegnung mit der Welt und mit uns selbst. Mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit führt dazu, dass vieles fraglos hingenommen und die Vorstellungskraft geschwächt wird (s. III.5). Aufmerksamkeit und Wachheit der Sinne sind Voraussetzungen eines teilnehmenden und teilgebenden Miteinander-Lebens. Im Dienste von Bildung ist Wahrnehmung zu weiten und sind Wahrnehmungsblockaden zu erkennen und zu überwinden. Den Ernstfall stellt die Wahrnehmung der anderen und des anderen dar als Voraussetzung, den anderen auch in seinem Anderssein anerkennen zu können.
Sich mit allen Sinnen dem Leben zu öffnen und so Aufmerksamkeit zu erlernen, steht nicht nur im Dienste von Selbstvergewisserung, Dialogfähigkeit und von Solidarität. Das ist auch eine Voraussetzung zum Beten (s. III.4): dem dankenden, preisenden und dem fürbittenden. Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit helfen, das selbstverständlich Fraglose fragwürdig werden zu lassen und Bewusstsein zu schaffen, dass Gott auch als die große heilsame Frage an die Menschen wahrnehmbar werden kann (vgl. WERBICK 1990, 92).
Entwicklung von Wahrnehmungsfähigkeit stellt sich gegen die »Vernichtung nachdenklicher Aufmerksamkeit« (RUMPF 1992, 28), gegen Unbetreffbarkeit, Empfindungslosigkeit in einer Zeit der Überflutung durch konsumanregende, kurzfristige Lust und Neugier erzeugende ästhetische Reize. Solche ästhetischen Phänomene einer »Anästhetik« (vgl. WELSCH 1993, 9–40) machen letztlich kontakt- und gefühllos gegenüber der Welt und dem Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten. Es gilt, sich wirklich auf Wahrnehmungen einzulassen, sich berühren zu lassen und sich Zeit zu nehmen auch für das Widerständige, Unvertraute, Übersehene und Überhörte, für das Verdrängte und Befremdliche.
Seinem Leben und seinem Glauben Gestalt geben
Innere Vorgänge, vertiefende Eindrücke, Wahrnehmungen, Lebensstile, Botschaften, Gemeinsamkeiten etc. mit vielen Möglichkeiten auszudrücken, sollte im Religionsunterricht gepflegt werden. Inneres Leben bedarf der äußeren Form. Gesten und Formen sind für das Gelingen von Kommunikation unersetzlich. Religiöse Eindrücke und Formen, die gestaltlos bleiben, verflüchtigen sich schnell. Innere Wahrnehmung bekommt Gestalt durch äußere Ausdrucksformen, die wiederum die innere Wahrnehmung vertiefen (vgl. ALTMEYER 2006). Im Religionsunterricht sollen Kinder lernen, ihre Lebensdeutungen, ihr Engagement, ihre Religiosität und ihren Glauben auch zu gestalten: sichtbar, hörbar, fühlbar und mitteilbar. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, dass die Kinder zu eigenem Ausdruck befreit werden: im Erzählen (s. III.3), im kreativen Schreiben (s. III.9), im Beten (s. III.4), im Malen und Gestalten (s. III.10), in der Bewegung (s. III.7), im darstellenden Spiel (s. III.8), in ihren eigenen Symbolisierungen (s. II.5), in ihren Selbstdarstellungen, in der Gestaltung von Ritualen, in der Festgestaltung (s. II.6) etc. Religionsunterricht sollte Raum und Lernformen anbieten, das auszudrücken, was für die Kinder im Leben wichtig, bedeutungsvoll ist, was als sinnvoll und was als sinnlos erfahren wird, was leben und hoffen lässt und was Leben behindert. Dies könnte z. B. Gestalt gewinnen in einem »Ich-Buch«, in das Kinder ihre persönlichen Gedanken, Fragen, Bilder, Fotos, Lieder, kurze Geschichten, Psalmverse, Gebete eintragen und bewusst gestalten mit ihrer je eigenen Ästhetik. Das intensiviert die Wahrnehmung und ermöglicht Kommunikation mit anderen.
Die Symbole des christlichen Glaubens lassen sich dann in ihrer lebensdeutenden und heilenden Kraft erahnen, wenn Kinder selbst zu symbolisieren gelernt haben, wenn sie gelernt haben, eine »Sprache«, einen Ausdruck dafür zu finden, was für sie in ihrem Leben Bedeutung hat, was für sie sinnvoll und sinnlos ist. Symboldidaktik (s. II.5) unter ästhetischem Vorzeichen ist darum immer auch Symbolisierungsdidaktik und religiöse Alphabetisierung. Religiöse Alphabetisierung unter ästhetischem Vorzeichen bedeutet auch Gestaltgebung und Stärkung der Vorstellungs- und Ausdruckskraft.
Besondere Möglichkeiten des Gestaltgebens eröffnet das »Projektartige Lernen« (s. III.13), das zugleich Brücken bauen kann zwischen schulischem und außerschulischem Lernen und die Kinder erfahren lässt, dass ihr Tun Bedeutung hat für das Leben auch außerhalb von Schule: z. B. eine Ausstellung vorbereiten, ein Labyrinth anlegen, Patenschaften für ausländische Schüler übernehmen, einen Gottesdienst mitgestalten, einen Bachlauf von Unrat befreien, ein Fest gestalten etc. Seinem Leben, seiner Religiosität und seinem Glauben Ausdruck und Gestalt zu geben, steht auch im Fokus einer sogenannten performativen Religionsdidaktik, die darauf drängt, Religion im schulischen Kontext nicht nur zu präsentieren, sondern auch in seinen Formen erlebbar zu machen, soweit dies in einem pluralen schulischen Kontext möglich und vertretbar ist (zu Anliegen und Praxisformen eines performativen Religionsunterrichts vgl. u. a. KLIE / LEONHARD 2003; MENDL 2008).
Den Lernprozess auf produktive Weise verlangsamen
Schule und mit ihr der Religionsunterricht stehen unter der Maxime unserer Zeit, alles müsse schnell gehen. Schnell ist gut, schneller ist besser! Langsamkeit im Lernen läuft dieser Maxime zuwider. Die Forderung nach Verlangsamung im Lernen (vgl. HILGER u. a. 1994 und 1998) erinnert an den ehrenvollen und provokativen Wortsinn von Schule, abgeleitet von schola bzw. scholé, Ort der Muße und des Innehaltens. Schule braucht eine Lernkultur des Innehaltens und der Verlangsamung, wenn sie im Geiste eines bildenden Lernens die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität fördern will. Ästhetische Bildung setzt eine Schulkultur voraus, die Zeit hat, Zeit lässt, und die – vielleicht sogar Widerstand setzend und Barrieren errichtend – aktiv Zeiträume schafft für ein verlangsamtes Lernen. Bildendes Lernen in diesem Sinne sollte den Verlockungen des schnellsten Weges widerstehen. Widerstand setzend, sollte es auch die Wahrnehmungsfähigkeit fördern. Der Schriftsteller Wilhelm Genanzino spricht von dem »gedehnten Blick«, der dazu anhält, die Dinge länger, genauer und staunend zu betrachten (vgl. GENANZINO 2006, 93 f.; zur theologischen Bedeutung des Staunens vgl. DEEG 2012).
Zu einer solchen Lernkultur gehören auch das Nachdenken und Grübeln, das Abwehren von zu schnellen Antworten und Lösungen, der Schutz der Fremdheit und der Besonderheit der Lerninhalte und immer wieder auch die Suche nach Möglichkeiten einer sinnlichen Fühlungnahme mit den Lerninhalten.
Ein gewolltes Verlangsamen religiösen Lernens kann auf Kosten quantitativer (Über-)Fülle ein qualitatives Mehr im Sinne wichtiger religionsdidaktischer Intentionen begünstigen: ein Mehr an Intensität, an Aufmerksamkeit, an Vorstellungs- und Einbildungskraft (s. III.5). Produktiv ist ein solches Lernen, wenn es eingefahrene Wahrnehmungsmuster »unterbrechend« ins Wanken bringt.
Produktive Verlangsamung in diesem Sinne kann so als eine notwendige Vorbedingung für ästhetische Erfahrungen im Religionsunterricht angesehen werden. Verlangsamung sollte aber nicht mit Untätigkeit verwechselt werden. Mit der Betonung des aktiven Moments wird eine weitere religionsdidaktische Dimension eines verlangsamten Lernens angesprochen: Verlangsamung zielt darauf, neuen Sinnsichten und Lebensperspektiven Zeit zu lassen. Dass Warten, Ruhe, Unterbrechungen produktiv sein können im Sinne einer Humanisierung des Lebens, sagt doch wohl auch das priesterschriftliche Schöpfungslied, wenn es die Unterbrechung und die Ruhe des Schöpfers am siebten Tag als Höhe- und Zielpunkt der Schöpfung besingt. »Sabbat« bedeutet als Verb »unterbrechen, aufhören, ruhen«. Das Ruhigwerden am Sabbat unterbricht ein lineares Zeitverständnis, rhythmisiert die Zeit, damit der Mensch und die Schöpfung zu sich und zu Gott finden können. Vielleicht kann der Religionsunterricht dann und wann eine Zeit sein, bei der die guttuende und heilende Gabe des Sabbat erspürt werden kann.
Eine angemessene Atmosphäre für den Unterricht schaffen
Religionsunterricht unter dem Vorzeichen von ästhetischer Bildung nimmt die Stimmigkeit von Inhalt und Form in den Blick. Dazu gehört neben dem jeweils angemessenen methodischen Arrangement u. a. die Passung von Inhalt und Atmosphäre, die durch die Kultur des sozialen Miteinanders und auch durch die räumliche Lernumgebung beeinflusst wird. Unter einer lieblos gestalteten Lernumgebung leidet nicht selten der Religionsunterricht, wenn er z. B. für kleine Lerngruppen in zufällig verfügbare Räume abgeschoben wird. Wichtiges verliert an Bedeutung, wenn die Lernumgebung Unaufmerksamkeit und Lieblosigkeit ausdrückt. »Ein schlampiger Klassenraum, unwirtliches Schulgebäude, Hektik, Nachlässigkeiten im Umgang miteinander – wenn die Atmosphäre nicht stimmt, hat es auch der Inhalt schwer« (KAHLERT / LIEBER 2005, 120). Hier müssten Räume gewährt und gestaltet werden, die zum Verweilen einladen, Räume, in denen Menschen mit ihrer eigenen Geschichte und ihrer Eigenart auch anwesend, präsent sein können, ohne zur Betriebsamkeit angetrieben zu werden und unter Zeitdruck zu stehen.
Zur Beachtung der Stimmigkeit von Form-Inhalt bzw. von Gehalt und Gestalt gehört die Balance zwischen Wahrnehmen und Gestalten, Eindruck und Ausdruck sowie ein ausgewogenes Verhältnis von detaillierter Planung und notwendigen Freiräumen, damit sich alle Akteure des Unterrichts als Subjekte »ich-haft« ins Spiel bringen und mit dem Thema in Beziehung treten können. Hans Schmid spricht von der »Kunst des Unterrichtens« (SCHMID 2012a), um sich von Lernfabriken abzusetzen, und er spricht von der Schule als Haus des Lernens, in dem es »Ateliers des Ausdrucks« (ebd., 9 f.) geben muss, ferner von der Kunst des unterrichtlichen Handelns. Unterrichtliches Handeln zeigt sich hier als Wechselspiel von regelgeleitetem Können und Intuition, von bewusster Gestaltung und Freiräumen für Einfälle, die dem Inhalt und den im Unterricht agierenden Menschen gerecht werden.