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3. Religion und Religionsunterricht: Beiträge zu Schulkultur und Schulleben
ОглавлениеGenau betrachtet, erschöpft sich Schule nicht in (Fächer-)Unterricht und Schulstunden. Vielmehr ist darüber hinaus seit über zwei Jahrzehnten in der pädagogischen Debatte zu Recht die Rede von Schulkultur, pädagogischer Kultur und Schulleben (vgl. NIPKOW 1990, 81–84; 514 ff; SCHEILKE 2006; SCHRÖDER 2006; KECK / SANDFUCHS 2011; WERMKE 2012). Nicht zuletzt an ihnen entscheidet es sich nämlich mit, ob Schulen gute oder schlechte Schulen sind. Die Erziehungswissenschaftler Helmut Fend (1986) und Peter Fauser (1989) haben unabhängig voneinander darauf hingewiesen, dass hier am prägnantesten die Qualität einer Schule zum Ausdruck komme. Ob Schulkultur, Schulleben oder pädagogische Kultur – entscheidend und gemeinsam ist diesen Überlegungen der Blick auf die Ausgestaltung der Schule als einer Lernumwelt, die als Ganze von Bedeutung ist. Schule als »Lebensraum« (VON HENTIG 2008) verlangt heute, wenn sie ihrem pädagogischen Auftrag gerecht werden will, »nach anderen Formen des gemeinsamen Lebens und Lernens, als sie in einer bloßen Unterrichtsanstalt möglich sind« (SCHWEITZER 2012, 102; vgl. WERMKE 2012, 107). Pädagogische Kultur und Schulkultur schließen dabei – über Schulleben hinausgehend – auch den Unterricht mit ein und stehen, mit einer Definition des Kulturwissenschaftlers Hermann Bausinger (auf den Fauser zurückgreift), für ein »bis ins Alltägliche hineinreichendes Zusammenspiel von Formen und Normen«. Schulkultur ist der Inbegriff all dessen, was in einer Schule besonders wichtig ist, wertgeschätzt und gepflegt wird, also der »Geist« (Esprit, spirit), der in ihr spürbar wird (vgl. SCHEILKE 2006, 352) und sich vielfältig an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten im Schulleben wie im Unterricht bemerkbar macht. Zusammengefasst und pointiert formuliert, meint also die Rede von Schul- bzw. pädagogischer Kultur und Schulleben, dass sich der pädagogische Charakter von Schule als gemeinschaftlicher Sache (»polis«; Hartmut von Hentig) auch in ihrer »Gestalt«, ihrem »Stil« oder »Geist« ausdrücken sollte. Es macht nämlich einen erheblichen Unterschied im Erscheinungsbild einer Schule aus, ob eine Schule vom Geist des Kapitalismus, des technokratischen Verfügungswissens, der Lernoptimierung und der Kompetenzensteigerung oder von einem Geist geprägt wird, der den Menschen nicht im Vorhandenen und Funktionieren aufgehen lässt, sondern Schülerinnen und Schülern auch »Muße« und Zeit gewährt, um sich auf Dinge und »Inhalte«, an denen diese sich bilden können, wirklich einzulassen und sich so in der Welt sinnhaft zu orientieren lernen (s. I.5). Es ist in diesem Zusammenhang unsere Überzeugung, dass christliche(r) Religion und Religionsunterricht zum Geist von Schule, also zur Schulkultur wie zum Schulleben vieles und Wichtiges beitragen können.
Religion und Religionsunterricht – aber auch andere Unterrichtsfächer – mit Schulkultur in Verbindung zu bringen und umgekehrt, war so lange nicht üblich und möglich, wie man Sache und Fach Religion – aber auch andere Sachen und Fächer – nur in ihrer solitären Einzelstellung in der Schule sehen konnte. Dies hat sich in der neueren Grundschuldebatte deutlich geändert, weswegen die wechselseitige Zuordnung von Schulkultur und Religion – wie auch anderer Fächer – mittlerweile ziemlich selbstverständlich ist.
Damit ist zum einen gemeint, dass Religion und Religionsunterricht auch auf Schulkultur angewiesen sind, und zum anderen, dass sie – Religionslehrkräfte hierin eingeschlossen – ihrerseits Förderliches zur Schulkultur beitragen können, weil es »in, mit und unter« Religion um Fragen, Themen, Haltungen geht, »deren Relevanz weit über den Rahmen des bloßen Fachunterrichts hinausgeht: um Grundeinstellungen zum Leben wie Dankbarkeit, Hoffnung, Vertrauen, Achtsamkeit usw., um Fragen des Menschen- und Gottesbildes, Fragen der Gerechtigkeit und des Gewissens« (ENGLERT / SCHWEITZER 2003, 80 f.), pointiert gesprochen also darum, in welchem Aufmerksamkeitshorizont und im Lichte welcher Perspektiven und Geschichten Kinder und Lehrkräfte (nicht nur Religionslehrkräfte!) einer Grundschule sich in der Wirklichkeit orientieren, ihr Leben »lesen«, begehen und verstehen wollen. All dies ist für die in der Schule agierenden Personen und für die Schulkultur in hohem Maße bedeutsam. Wir denken dabei im grundschulrelevanten Zusammenhang in exemplarischer Auswahl vor allem an folgende Elemente und Momente, »in, mit und unter« denen in der Grundschule Religion begegnet:
Pädagogische Situationen und Gelegenheiten
Begegnungen mit Religion und religiöses Lernen können sich – seien sie spontan oder intentional geplant und gesteuert – in rhythmisierter und ritualisierter Schul-Zeit ereignen, also an (normalen) Schultagen, in der Schulwoche und im Schuljahr. Konkrete Möglichkeiten sind der Morgenkreis, der Wochenanfang und der Wochenabschluss, Gelegenheiten im Jahreskreislauf, aber auch besondere situations- und schulbedingte Möglichkeiten. Viele Grundschulen haben gute Erfahrungen mit dem offenen Tagesanfang bzw. der »Gleitzeit« gemacht: Kinder können hier »gleitend« ankommen und sich zunächst individuell im Klassenraum orientieren (etwa in Spiel- und Arbeitsecken etc.), bevor der strukturierte Unterricht beginnt. Dadurch haben Lehrkräfte Zeit, mit den Kindern informell zu kommunizieren, wobei religiöse Fragestellungen und Themen einfließen können (vgl. EKD 2000, 10). Weitere Gelegenheiten sind Freiarbeit (s. III.12), Anfangsunterricht (s. III.16), Stilleübungen (s. III.4).
Des Weiteren sind gemeinsame Rituale (s. II.6), sei es im Klassenverband bzw. der Lerngruppe oder auch schulöffentlich, zu Beginn einer Schulwoche, im Verlauf des Schuljahres und des Jahreskreislaufs oder bei besonderen schul- und ortsbedingten Gelegenheiten dazu angetan, inhaltlich, sozial und emotional auf die Woche, einen Schul- oder Jahresabschnitt und auf besondere Ereignisse »einzustimmen, Erwartungen zu wecken, Pläne offen zu legen und besonderer Ereignisse zu gedenken« (EKD 2000, 11). Wochenschlussrituale, Rituale im Rückblick auf Schuljahresabschnitte, auf Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter sind Gelegenheiten, zum Rückblick, zur Besinnung, auch zur Auswertung und zum Feed-back beizutragen. Themen mit religiöser Konnotation und religiös relevante Ereignisse können hier einbezogen werden. Da Kinder Ritualisten sind (s. II.6), das heißt, nach Form, Gestalt und Riten verlangen, bietet es sich an, bei der Gestaltung von Ritualen auf die überlieferte (oder auch neue) Expressions- und Formensprache der christlichen Religion, aber auch anderer Religionen – hier tun sich wichtige Möglichkeiten für interreligiöses Lernen auf (vgl. SCHWEITZER 2012, 103; s. II.11) – zurückzugreifen: durch Singen eines Liedes oder Kanons, Schreiben eines Gedenk- oder Fürbittbuches, durch eine Prozession, durch das Anzünden einer Kerze, durch einen Bewegungs- oder Kreistanz usw.
Da diese Gelegenheiten und Möglichkeiten außerhalb des Fachunterrichts in verschiedenen Situationen stattfinden, ist in jeder dieser Situationen darauf zu achten, dass eine Balance zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit gewährleistet ist (vgl. WERMKE 2012, 109 ff.): Grundschulkinder sollten sich hier frei äußern und einbringen können, ohne dass andere weltanschaulich-religiös in Bedrängnis geraten oder gar verletzt werden. Für die verantwortliche Gestaltung solcher Situationen »ist ein hohes Maß an fachlicher Kompetenz und Sensibilität in religiösen Fragen erforderlich« (EKD 2000, 10), und zwar seitens aller Beteiligten, speziell aber der Religionslehrkräfte, die sich bei der Ausgestaltung der oben genannten Situationen und Gelegenheiten gerne beteiligen sollten.
Wenn es um den Beitrag der (christlichen) Religion und des Religionsunterrichts zum Schulleben und zur Schulkultur geht, ist auch an Feiern, Andachten und Gottesdienst zu denken, auf die an anderer Stelle (s. II.6) eingegangen wird.
Öffnung von Schule und Begegnung
Zur Schulkultur gehört ferner, dass sich Grundschulen zunehmend unterschiedlichen außerschulischen Lebensbereichen öffnen und den Kontakt mit ihnen suchen. Dies beinhaltet z. B., die »Nachbarschaft von Schule und Gemeinde« (Hans Bernhard Kaufmann; vgl. WERMKE 2012, 113 f.) zu entdecken (s. III.11), Orte gelebter Religion zu erkunden, seien es Kirchen, Moscheen oder diakonische Einrichtungen, sowie Begegnungen mit Menschen herbeizuführen, seien es Zeugen und Vertreterinnen des christlichen Glaubens oder nicht-christlicher religiöser Herkunft (vgl. FISCHER 2007, 371).
»Beziehungsarbeit«
Die Bedeutung von (christlicher) Religion wird nicht zuletzt auch in der Gestaltung von Beziehungen und von Beziehungsarbeit im Raum der Schule deutlich. Die »beziehungsstiftende« Kraft der christlichen Religion, welche die Gottesebenbildlichkeit in den Mittelpunkt rückt und damit die Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und Würde der Person betont (vgl. FISCHER 2001b, 92), ist hier von hoher Bedeutung und wirkt sich auch im Umgang von Menschen miteinander aus, wie sie sich im Raum der Grundschule begegnen. Hier zeigt sich, ob Religion etwas von der »Lebensfreundlichkeit« und »Beziehungsfreundlichkeit« Gottes weitergeben, leben und zum Ausdruck bringen kann. Exemplarisch führen wir dafür folgende drei Zusammenhänge an:
Wenn Lehrkräfte und Schulveranwortliche mit den Eltern und nicht gegen sie oder ohne sie arbeiten und entsprechende Kontakte pflegen, wenn Eltern in die Mitgestaltung von Schule und Unterricht einbezogen werden und hier mithelfen können und ihrerseits auch von der Schule und den Lehrkräften Unterstützung erfahren (wertschätzende Elternarbeit);
wenn der Weg »vom Lehrer-Konglomerat zum Kollegium« (BOHNSACK 1986, 97) gelingt, also ein gutes Miteinander, Empathie und Sympathie, Dialogfähigkeit und Toleranz gelebt und geübt werden können, was Auseinandersetzungen nicht aus-, sondern einschließt. Wie gestalten z. B. Lehrende ihre Zusammenarbeit? Nehmen sie sich Zeit füreinander zur Verständigung und zur Gestaltung der pädagogischen Arbeit? Wird im Team gearbeitet?
Wenn Schülerinnen und Schüler nicht als »Belastung«, sondern mit Wertschätzung wahrgenommen werden, wenn sie genügend Anregungen, Geborgenheit und Verlässlichkeit erfahren und nach Bedarf gefordert und gefördert werden; wenn Lehrkräfte fürsorglich mit ihnen umgehen und gute Beziehungen zu ihnen pflegen, d. h. »Verhaltensweisen wie Fairness, persönliches Interesse, Respekt, Vertrauen, Vergebungsbereitschaft … zeigen und einfordern« (SCHEILKE 2006, 351). Auch hier begegnet Religion, ereignen sich religiöses Lernen und Schulseelsorge (vgl. DAM / SPENN 2007).
Zusammenfassung:
Religion begegnet in der Grundschule im Fachunterricht Religionslehre. Aber auch in anderen Schulfächern sollte Zeit und Raum sein, sich mit religiösen Aspekten der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, wenn Kinder im Zusammenhang mit fächerspezifi schen Themen religiöse Fragen stellen. Eine weitere Möglichkeit findet sich im fächerübergreifenden Unterricht, der zum Ziel hat, der Zersplitterung der Weltwahrnehmung in Teilbereiche entgegenzuwirken; hierbei kann die religiöse Dimension bestimmter Sachverhalte und Fragestellungen aufscheinen. Darüber hinaus wird Religion in der Grundschule dadurch konkret und relevant, dass sie durch Feste und Gottesdienste, durch die offene Begegnung mit verschiedenen Formen von Religion und durch das Miteinander in der Schule im Geist christlicher Nächstenliebe einen wesentlichen Beitrag zu Schulleben und Schulkultur leistet.
Lesehinweise:
DIETERICH, VEIT-JAKOBUS (2002): Fächerübergreifender Unterricht. In: BIZER, CHRISTOPH u. a. (Hg.): Religionsdidaktik (JRP 18). Neukirchen-Vluyn, 193–204.
FISCHER, DIETLIND (2001b): Religion im Schulprogramm. In: Dies. (Hg.): Religion lernen in der Grundschule. Münster, 91–94.
SCHEILKE, CHRISTOPH (2006): Schule – Schulentwicklung – Schulkultur. In: NHRPG2, 348–352.
WERMKE, MICHAEL (2012): Religion und Schulleben. In: ROTHGANGEL, MARTIN / ADAM, GOTTFRIED / LACHMANN, RAINER (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium. 7., grundlegend neubearbeitete und ergänzte Auflage. Göttingen, 106–123.
WILLERT, ALBRECHT (2002): Religionsunterricht als fachübergreifender und fächerverbindender Unterricht. In: WERMKE, MICHAEL (Hg.): Aus gutem Grund: Religionsunterricht. Göttingen, 191–197.