Читать книгу Religionsdidaktik Grundschule - Konstantin Lindner - Страница 30
1. Standards für religiöse Bildung?
ОглавлениеDer maßgeblichen Formulierung des sogenannten Klieme-Gutachtens zufolge benennen Bildungsstandards »die Kompetenzen, welche die Schule ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln muss, damit bestimmte zentrale Bildungsziele erreicht werden. Die Bildungsstandards legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erworben haben sollen« (KLIEME u. a. 2003, 19). Bildungsstandards werden ausgehend von sogenannten Bildungszielen entfaltet, die »relativ allgemein gehaltene Aussagen darüber [machen], welche Wissensinhalte, Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Einstellungen, Werthaltungen, Interessen und Motive« Kindern und Jugendlichen »zur Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit, zur Aneignung von kulturellen und wissenschaftlichen Traditionen, zur Bewältigung praktischer Lebensanforderungen und zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben« verhelfen sollen (KLIEME u. a. 2003, 20). Bildungsziele geben letztlich Auskunft darüber, was den Kern eines Unterrichtsfaches ausmacht.
Eckhard Klieme u. a. verweisen darauf, dass Standards lediglich festlegen wollen, was von allen Schülerinnen und Schülern verbindlich erreicht werden sollte, aber keinesfalls sämtliche Aspekte eines Lernbereichs abdecken können (vgl. KLIEME u. a. 2003, 25 f.). Damit fokussieren sie Mindeststandards, »unter die kein Lernender zurückfallen soll«; davon lassen sich Regelstandards, die »eine mittlere Niveaustufe« definieren, und »Maximalstandards« abgrenzen (KLIEME u. a. 2003, 27). Wenn die Kultusministerkonferenz wiederum von Bildungsstandards spricht, meint sie damit Regelstandards.
In grundsätzlicher Hinsicht stellt sich die Frage, inwiefern die Idee von Bildungsstandards mit dem Humboldt’schen Bildungsbegriff konform geht, der darauf angelegt ist, »dass Heranwachsende als Subjekte sich ihre Kultur und Bildung selbstständig schaffen« (RITTER 2007, 31) und nicht an Vorgaben angepasst werden (s. I.1). Diese Anfrage ist gerade auch hinsichtlich religiöser Bildungskontexte virulent. Dass Religion einen wichtigen Aspekt von Bildung ausmacht, darauf verweist – nicht zuletzt – das deutsche PISA-Konsortium. Es gäbe unterschiedliche »Modi der [menschlichen] Weltwahrnehmung«, die in der Schule zur Geltung kommen müssen: kognitive Rationalität; moralisch-evaluative Rationalität; ästhetisch-expressive Rationalität; religiös-konstitutive Rationalität (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2000, 21; vgl. auch BAUMERT 2002). Mit religiös-konstitutiver Rationalität ist ein Denken gemeint, das sich nicht in szientistisch-naturwissenschaftlichen Kategorien erschöpft, sondern Fragen der Letztbegründung von Wirklichkeit thematisiert und sich diesen stellt. Der Mensch ist nämlich aufgrund seiner ihm selbst bewussten Begrenztheit bzw. Endlichkeit grundlegenden Fragekontexten – nach dem Woher, dem Wohin, dem Wozu – ausgesetzt und bedarf entsprechender Antworten. Das heißt, die Option, Welt religiös zu deuten, ist eine ganz spezifische und gehört zu den Möglichkeiten des Menschen. Diese gilt es auch im Rahmen von schulischer Bildung zu würdigen. Im Horizont des Religionsunterrichts stellt sich gleichwohl die Frage, ob religiöse Bildung wirklich in Bildungsstandards aufgehen kann oder ob diese nicht mehr umfasst als lediglich messbare Kompetenzen (vgl. OBST 2008, 41–50; ROTHGANGEL 2012, 329 f.). Hier zeigt sich eine Grenze von Religionsunterricht, der keinesfalls Religion und Religiosität in ihrer Gänze fokussieren kann. Letztlich ist nämlich damit zu rechnen, »dass das Wichtigste und Beste am Religionsunterricht, aber auch an der Schule sich gerade nicht in Kompetenzen oder Standards ausdrücken lässt« – und zwar der existenzielle Bezug, z. B. »Erfahrungen und Begegnungen, Einsichten und Anstöße, die sich nicht operationalisieren oder messen lassen« (SCHWEITZER 2004, 240 f.).
Die Deutsche Bischofskonferenz hat relativ zeitig – bereits bevor entsprechende religionspädagogische Diskussionen sich tiefergehend damit befasst hatten – Richtlinien zu Bildungsstandards für den Katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I (vgl. DBK 2004b) und für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule (vgl. DBK 2006) entfaltet. Die Evangelische Kirche veröffentlichte 2011 einen entsprechenden Orientierungsrahmen (vgl. EKD 2011). Damit erweisen die beiden Kirchen als für die inhaltliche Ausgestaltung des Religionsunterrichts verantwortliche Instanzen dieses Unterrichtsfach in seiner Adäquanz zu anderen schulischen Fächern und entziehen sich der aktuellen Bildungsdebatte nicht. Sie geben – orientiert an den Ergebnissen religionsdidaktisch-wissenschaftlicher Forschung – begründet Rechenschaft darüber, was zum erreichbaren Kernbestand des Religionsunterrichts gezählt werden kann. Gleichwohl verorten die entsprechenden kirchlichen Dokumente die Bildungsstandards »im Rahmen eines umfassenden Verständnisses religiöser Bildung« (DBK 2006, 8), welche dadurch nicht auf lediglich messbare Aspekte reduziert wird. Unter anderem Einstellungen und Haltungen, die »für den christlichen Glauben bedeutsam sind« – z. B. »Wachheit für die großen Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens« oder »Hoffnung auf ein Leben über den Tod hinaus« – »sind nur begrenzt lehrbar« (ebd., 13). Davon ausgehend, lässt sich ein wichtiges, kritisch-produktives Kriterium bzgl. der Bildungsstandards entfalten: Diese sind in der schulischen Praxis so umzusetzen, dass das Subjekt nicht um der überprüfbaren Leistungen bzw. Kompetenzen willen übergangen und zum Objekt einer am Fortschritt und an Leistungsfähigkeit orientierten Gesellschaft wird. Gerade die in vielen Bundesländern für die Fächer Deutsch und Mathematik eingeführten Schulleistungstests zeigen, dass derartige Bedenken nicht aus der Luft gegriffen sind.