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4. Religionsunterricht in Deutschland – Die Formenvielfalt nimmt zu

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Anders als in den meisten europäischen Ländern (vgl. SCHRÖDER 2012b) ist der Religionsunterricht in Deutschland nicht einheitlich geregelt. Grund dafür ist der spezifisch deutsche Bildungsföderalismus, der die Gestaltungshoheit und Verantwortung für die Bildungsorganisation den einzelnen Bundesländern zuweist. In den letzten Jahrzehnten hat die Formenvielfalt des Religionsunterrichts in Deutschland noch einmal merklich zugenommen. Den gesellschaftlichen Hintergrund dafür bildet zum einen die beschleunigte religiöse Pluralisierung im Zuge der Migrationsbewegungen seit den 1960er-Jahren, zum anderen die Wiedervereinigung. Da in den neuen Bundesländern nur eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler einer der beiden Großkirchen angehört, stand und steht der herkömmliche konfessionelle Religionsunterricht hier unter erheblichem Plausibilisierungsdruck.

Die konfessionelle Regelform und alternative Realisierungswege auf Länderebene

Trotz der genannten Veränderungen ist der evangelische und katholische Religionsunterricht in den meisten deutschen Bundesländern auch heute noch reguläres staatliches Schulfach und wird im Bereich der Grundschule meistens mit zwei Wochenstunden erteilt. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des unübersehbaren Rückgangs konfessionellen Bewusstseins sind in den letzten Jahrzehnten bemerkenswerte Versuche unternommen worden, die konfessionelle Versäulung des Religionsunterrichts in Deutschland durch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen evangelischem und katholischem Religionsunterricht aufzubrechen (s. II.10). Während diese Initiativen auf eine Weiterentwicklung des konfessionellen Religionsunterrichts zielen, haben manche Bundesländer – zum Teil schon sehr früh – alternative Wege eingeschlagen (vgl. zum Folgenden MEYER-BLANCK 2012b sowie die Länderberichte in ROTHGANGEL /SCHRÖDER 2009):

  In Bremen wird seit 1947 per gesetzlicher Regelung Religionsunterricht als »bekenntnismäßig nicht gebundener Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage« (Art. 32 BLV) erteilt. Ermöglicht wurde dies durch die sogenannte »Bremer Klausel« im Grundgesetz (Art. 141): Sie besagt, dass Länder, »in denen am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand«, nicht die Vorgaben in Art. 137,1 gebunden sind.

  In Berlin wird Religion als Unterrichtsfach in der (sechsjährigen) Grundschule (seit 1948) infolge gesetzlicher Regelung in alleiniger Verantwortung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften angeboten und ist als freiwilliges »Anmeldefach« kein »ordentliches Lehrfach« im Sinne von Art. 7 Abs. 3 GG. Zum Schuljahr 2006 / 07 wurde für die Sekundarstufe I das Pflichtfach Ethik eingeführt.

  In Hamburg hat sich eine besondere Form des Religionsunterrichts etabliert, der zwar im Sinne von Art. 7 Abs. 3 GG von der Evangelischen Kirche verantwortet wird, sich aber an alle Schülerinnen und Schüler richtet – unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit und Überzeugung. Da religiöse Bildung an Hamburger Schulen in den ersten zwei Klassenstufen in den Gesamtunterricht integriert ist, beginnt der »Religionsunterricht für alle« mit dem 3. Schuljahr. Aufgrund der geringen Zahl an katholischen Christen nahm die katholische Kirche ihre Verantwortung für die religiöse Schulbildung lange Zeit ausschließlich an katholischen Privatschulen wahr. Neuerdings wird jedoch auch an einzelnen öffentlichen Schulen wieder katholischer Religionsunterricht erteilt.

  Einen Sonderfall stellt das 1995 in Brandenburg eingeführte Schulfach LER – Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde – dar (vgl. RAMSEGER 2003). Es »dient der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilsbildung sowie über Religionen und Weltanschauungen« und wird »bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet« (BbgSchulG § 11). Ab einer Gruppengröße von 12 Schülerinnen und Schülern ist ein konfessioneller Religionsunterricht vorgesehen, der jedoch allein von den Kirchen verantwortet wird und – im Unterschied zu LER – kein ordentliches Schulfach ist. Während die Teilnahme an LER ursprünglich obligatorisch war, haben die Schülerinnen und Schüler seit 2002 die Möglichkeit, sich bei Teilnahme am Religionsunterricht von LER befreien zu lassen.

Parallelfächer des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts

Aufgrund der Religionsfreiheit kann die Teilnahme am konfessionellen Religionsunterricht nicht verpflichtend sein. Daher gewährt das Grundgesetz Erziehungsberechtigten und Schülerinnen bzw. Schülern das Recht auf Abmeldung vom Religionsunterricht.

  In den meisten deutschen Bundesländern gibt es verpflichtende Ersatz- oder Alternativangebote für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die nicht am konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen. Auch hier gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Diese betreffen bereits den Namen des Faches, das mehrheitlich unter der Bezeichnung »Ethik« angeboten wird. In manchen Bundesländern firmiert das Fach unter dem Begriff »(Praktische) Philosophie«, in Niedersachsen heißt es »Normen und Werte«. Auch der Status des Faches variiert: In den meisten Fällen ist es als »Ersatzfach« eingerichtet – was nicht abwertend gemeint ist, sondern in juristischer Terminologie die Vollwertigkeit dieses Faches anzeigt. In Sachsen und Sachsen-Anhalt, wo die Teilnehmerzahlen an diesem Fach die des Religionsunterrichts deutlich übersteigen, haben die Schülerinnen und Schüler von vornherein die Möglichkeit, zwischen Ethik und Religionsunterricht als gleichrangigen Wahlpflichtfächern zu wählen. Die für die Grundschule folgenreichste Differenz betrifft den Einführungszeitpunkt. In vielen Fällen ist das Fach »Ethik« oder, »(Praktische) Philosophie« auf die Sekundarstufe beschränkt. Lediglich in Bayern, Rheinland-Pfalz sowie den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wird bereits in der Grundschule Ethikunterricht erteilt. In Mecklenburg-Vorpommern wurde das Fach »Philosophieren mit Kindern« als Ersatzfach im Primarbereich etabliert.

  Jedoch gibt es auch konfessionell, religiös und weltanschaulich bestimmte Parallelfächer zum evangelischen und katholischen Religionsunterricht. Nach regionalem Bedarf wird in einigen Bundesländern jüdischer bzw. orthodox christlicher Religionsunterricht angeboten. Vereinzelt gibt es auch neuapostolischen, altkatholischen, mennonitischen oder buddhistischen Religionsunterricht. In Berlin hat der humanistische Lebenskundeunterricht großen Zulauf.

  Besondere Aufmerksamkeit verdienen schließlich die im letzten Jahrzehnt enorm intensivierten Bemühungen um eine Einrichtung eines ordentlichen islamischen Religionsunterrichts in Deutschland. Auch wenn die verfassungsrechtlichen Hürden, die der flächendeckenden Einführung eines solchen Faches entgegenstehen, immer noch nicht gänzlich überwunden sind (vgl. KORIOTH 2006), wird der islamische Religionsunterricht bereits in zahlreichen regionalen Schulversuchen als ordentliches Parallelfach zum konfessionellen Religionsunterricht praktiziert und sukzessive weiterentwickelt (vgl. KIEFER 2011; ausführlicher BOCK 2006). Auch hier schlägt der Bildungsföderalismus voll durch. Dabei kann man grob zwischen religionskundlichen und bekenntnisorientierten Modellen unterscheiden, wobei der Unterricht hier wie dort von muslimischen Lehrkräften erteilt wird. Der Weg einer Islamkunde ohne Mitwirkung der Religionsgemeinschaften wird am konsequentesten in Nordrhein-Westfalen beschritten. Jüngere Schulversuche, besonders in Bayern und Niedersachsen, verfolgen tendenziell einen stärker bekenntnisgebundenen Ansatz, wobei im letzteren Fall auch die islamischen Verbände eingebunden wurden. Jedoch ist die Frage nach anerkennungsfähigen Ansprechpartnern bis heute umstritten, was auch daran liegt, dass die auf die Weimarer Verfassung zurückgehenden Vorgaben des Grundgesetzes – etwa was den für den Islam fremden Begriff der »Religionsgemeinschaft« angeht – erkennbar mit Blick auf die spezifische Organisationsgestalt der christlichen Kirchen konzipiert wurden.

Wie dieser kurze Überblick zeigt, hat die für den Religionsunterricht in Deutschland insgesamt charakteristische regionale Differenzierung in den letzten Jahrzehnten noch einmal deutlich zugenommen. Diese selbst für Experten kaum mehr überschaubare Vielfalt ist nicht nur zu beklagen. Sie steht für das gewachsene politische und religionspädagogische Bestreben, religiöse Schulbildung kontextgerecht anzulegen. Der Religionsunterricht findet in Bayern und Baden-Württemberg ein ganz anderes Bewährungsfeld vor als in den hochgradig entkonfessionalisierten neuen Bundesländern. Zudem erfordern urbane Ballungsräume wie Berlin oder Hamburg andere Lösungen als eher ländlich geprägte Regionen. Daher spricht bei dem derzeitigen Stand der Dinge viel dafür, dass es in Deutschland mehrere (wenn auch nicht beliebig viele!) legitime Realisationsformen des Religionsunterrichts geben wird, aber kein Religionsunterrichts-Einheitsmodell.

Zusammenfassung:

Als grundgesetzlich garantiertes »ordentliches Lehrfach«, das in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird, ist Religionsunterricht im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche angesiedelt. Staat und Kirche tragen gemeinsam die Verantwortung für ihn, jeweils in den ihnen zustehenden Bereichen. Der Religionsunterricht ist aus der Schule nicht wegzudenken, weil er für die Schülerinnen und Schüler das Grundrecht auf Religionsausübung sichert. Gleichwohl muss in Zeiten gravierender gesellschaftlicher Umbrüche und mit Blick auf theologische Entwicklungen auch über veränderte Formen des Religionsunterrichts nachgedacht werden.

Lesehinweise:

GRETHLEIN, CHRISTIAN (2002): Schule braucht Religion. In: WERMKE, MICHAEL (Hg.): Aus gutem Grund: Religionsunterricht. Göttingen, 27–33.

MEYER-BLANCK, MICHAEL (2012): Formen des Religionsunterrichts in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. In: ROTHGANGEL, MARTIN / ADAM, GOTTFRIED / LACHMANN, RAINER (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium. 7., grundlegend neu bearbeitete und ergänzte Auflage. Göttingen, 160–174.

SCHRÖDER, BERND (2012): Religionspädagogik. Tübingen, hier: 295–308; 524–534.

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