Читать книгу Die Wiederkehr des Übens - Malte Brinkmann - Страница 13

1.5 Üben als besondere Lernform

Оглавление

Im Alltag lassen sich Lernen und Üben schwer unterscheiden. Sie gehen ineinander über. Gleichwohl lassen sich Unterschiede benennen, die Üben als eine besondere Lernform ausweisen. Elementare Strukturen des Übens sind die Wiederholung, Negativität, Leiblichkeit und Machtförmigkeit ( Kap. 5). Geübt werden leibliche und motorische Lebens- und Weltvollzüge, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie individuelle Haltungen und Einstellungen. Jede Übung hat daher bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung eine ästhetisch-sinnliche, eine methodisch-reflexive und eine praktisch-ethische Dimension. Üben ist immer Einüben, Ausüben und Sich-üben zur gleichen Zeit ( Kap. 4). Üben ist eine Tätigkeit. Sie braucht, wie das Lernen auch, eine Sache, einen Inhalt, einen Stoff – also ein Stück Welt, das Anlass, Thema, Inhalt oder Ziel des Übens ist. Mit anderen Worten: Üben hat immer einen Gegenstand. Dieser ist in einem spezifischen Tätigkeitsfeld lokalisiert. In den unterschiedlichen Feldern des Übens ( Kap. 8) ergeben sich daher jeweils unterschiedliche Erfahrungs- und Anforderungsstrukturen des Übens. Fahrradfahren üben hat eine andere Erfahrungsstruktur und folgt anderen Regeln als das Verstehen üben oder das Imaginieren üben. In den unterschiedlichen Feldern des Übens wird der Gegenstand und damit das »Stückchen Welt«, die Sache oder der Inhalt, auf eine je besondere Weise erfahren. Insofern wird das Nicht-Können in diesen Feldern ebenfalls jeweils anders erfahren. Nicht- oder Missverstehen der Anderen bedeutet eine andere Qualität in der negativen Erfahrung als z. B. nicht Fahrrad fahren können. Für alle diese Erfahrungen aber gilt: In diesen negativen Erfahrungen manifestieren sich die produktiven Chancen des Übens. Aufgrund seiner Wiederholungsstruktur zielt Üben nicht direkt und unmittelbar auf Einsicht, auf einen Wow-Effekt oder auf ein Aha-Erlebnis. Trotzdem ist im Üben ein Lernen aus Erfahrung möglich, denn Einsicht oder Erkenntnis ergeben sich im Üben – im Unterschied zum Lernen – erst nach oder mit den Wiederholungen ( Kap. 4 und 5.2). Üben unterscheidet sich also vom Lernen durch den wiederholenden Charakter, der dieser Praxis einen kreis- oder spiralförmigen Grundzug verleiht ( Kap. 7). Üben ist auch nicht schiere Wiederholung im Sinne einer Repetition desselben. Aufgrund des Bruches in der Wiederholung, der »temporalen Differenz« ( Kap. 5.2), richtet sich Üben auf jene negativen Erfahrungen des Nicht-Könnens. Sie werden in einer gezielten Operation angesteuert. Der negative Grundzug des Übens lässt sich nicht vollständig eliminieren. Ohne Negativität, ohne Nicht-Können und Nicht-Wissen wäre das Üben beendet – und ohne Negativität wäre der bildende Charakter des Übens nicht kenntlich.

Hintergrund dieser Überlegungen ist eine phänomenologische Erfahrungs- und eine pädagogische Lerntheorie. Diese versucht, eurozentrische und logozentrische Duale zu überwinden und leibliche, aisthetische und motorische Aspekte ebenso einzubeziehen wie geistige und vernünftige ( Kap. 4). Negativität kann dann als elementare Erfahrungsstruktur im Üben bestimmt werden, die die Produktivität und Kreativität und zugleich die implizite Reflexivität des Übens hervorbringt. Aufgrund der leiblichen Grundstruktur des Übens, die auf situativer, kulturell und gesellschaftlich basierter Verkörperung und horizonthafter Gestaltwahrnehmung beruht, spreche ich von einer Positionierung des Übenden (vgl. Spivak 2008, Butler 2018; Kap. 8.4). In den negativen Erfahrungen der Übenden, im temporalen Zwischenraum der Wiederholung und im machtförmigen Spannungsgefüge zwischen Selbstsorge und Fürsorge erweist sich die bildende und überschreitende Produktivität und Kreativität des Übens. Das bildungs- und übungstheoretisch ausgewiesene Ziel des Übens kann als Selbstsorge und Selbstformung bestimmt werden, mit denen sich eine praktische und »gekonnte« Transformation ereignen kann.

Die Wiederkehr des Übens

Подняться наверх