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3.2 Konfuzianistische Hintergründe
ОглавлениеChina ist weltweit das einzige Land, das auf eine 5.000-jährige, kontinuierliche Geschichte und Tradition zurückblicken kann (vgl. Chan 1999). Der bis heute bestimmende Konfuzianismus hat sich fast über den gesamten asiatischen Raum verbreitet und sich im Laufe der Zeit mit Elementen des Daoismus und Buddhismus vermischt. Gleichwohl wird davon ausgegangen, dass der Konfuzianismus bis heute eines der bedeutendsten Fundamente der asiatischen und chinesischen Kultur darstellt (zum Begriff der Kultur vgl. Henze 2011, Jullien/Köller 2002), wenn auch mit Unterbrechungen, Verschiebungen und Transformationen im Zuge einer compressed modernity (vgl. Zizek 2020, S. 166), in der eine ökonomisch globalisierte Modernität mit traditionellen Normen, Werten und Praktiken in Konflikt gerät.11
Der Konfuzianismus ist geprägt von einer Praxis der weltzugewandten Selbstbeherrschung und Selbstkultivierung. Er basiert auf einer Tugendlehre, die für die Vorstellung von Üben und Lernen von großer Bedeutung ist. Der Konfuzianismus lässt sich in drei Hinsichten kennzeichnen: Harmonie, Hierarchie, facework (vgl. Henze 2011, Peng et al. 2018). Er basiert erstens auf einer ausgeprägten philosophischen Harmonievorstellung, die sich in einem Ethos der Selbstzurücknahme äußert. Die Harmonie manifestiert sich in konzentrischen Kreisen, beginnend bei dem nahen Umfeld der Familie über den Freundeskreis und die Institution, der man angehört, bis hin zum Staat (vgl. Li 2012, S. 312 ff.). Soziale Gemeinschaften, auch Institutionen und Staaten, werden unter der Perspektive der Harmonie gesehen und bewertet. Die Gemeinschaft ist in sozialer, ethischer und praktischer Perspektive dem Individuum vorgeordnet. Lernen und Üben ist im asiatischen Kulturkreis damit in erster Linie ein soziales Phänomen und eine soziale Praxis. In der Gemeinschaft erhält das Individuum durch Unterordnung Schutz, Achtung und Unterstützung. Es hat auf der anderen Seite für diese Gemeinschaften einen »Dienst« zu erbringen (vgl. Peng et al. 2018, S. 262). Chinesische Eltern beispielsweise engagieren sich für die Erziehung ihrer Kinder stärker als westliche Eltern und sind bereit, mehr an Zeit, Geld und Geduld für ihre Kinder zu opfern (vgl. Li 2012, S. 145 ff.). Dafür sind im Gegenzug die Kinder ethisch verpflichtet, ihren Eltern, Lehrern und anderen Autoritäten zu helfen, sie zu unterstützen und zu respektieren. Das Hierarchieverhältnis hat also ein Autoritätsverhalten zur Folge, das sich im heutigen, modernen China noch weitgehend durchhält, auch wenn sich schon deutliche Brüche zeigen. Harmonie- und Hierarchievorstellungen bewirken, dass Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und Politikerinnen und Politiker als Autoritäten gelten. Der Konfuzianismus fordert Ehrfurcht und Hochachtung vor diesen Autoritäten ein. Selbst der Kaiser sollte gemäß der konfuzianistischen Vorstellung die Lehrerin und den Lehrer und die Philosophie ehren (vgl. Peng et al. 2018, S. 265).
In China, Indien, Korea, Japan und Taiwan sind soziale Gemeinschaften zweitens durch Hierarchien geprägt. Gemeinschaftlicher Umgang, Lernen und Üben, »Lob und Kritik, Mediation, Problemlöseverhalten, Umgang mit Information, Umgang mit Zeit, mit Geschlecht und Körperlichkeit, mit Farben, Speisen, mit Behinderung usw., alles unterliegt (…) in unterschiedlicher Intensität einer hierarchie-orientierten Bewertung und daraus abgeleiteten Handlungsoptionen« (Henze 2011, S. 90). Der dritte wichtige Aspekt der konfuzianistischen Kultur ist neben Hierarchie und Harmonie Gesicht (face) bzw. facework. Gesicht/Face entsteht als soziales Phänomen im Spiegel eines relationalen Selbst in der Antwort und Referenz auf Andere und verweist auf moralische Integrität, Fähigkeiten, Status, Kultur bzw. Kultivierung einer Person (vgl. ebd., S. 92). Face bezieht sich also auf moralische Integrität, auf sozialen Status und Kultiviertheit. Es gilt zum einen als universale Größe, die alle Kulturen dieser Welt betrifft. Allerdings wird es besonders im asiatischen Raum auf vielfältige Weise repräsentiert und erforscht. Man kann das eigene »Gesicht« verlieren, jemand anderem das »Gesicht« nehmen, das eigene »Gesicht« mehren, jemand anderem ein »Gesicht« geben, das eigene »Gesicht« wahren und auch das »Gesicht« der Anderen wahren (vgl. Weidemann 2004, S. 93). Facework manifestiert sich zum anderen in einer sozialen, interaktiven Beziehungspflege (guanxi), die reziprok kontextgebunden langfristig und utilitaristisch orientiert ist (vgl. Henze 2011, S. 95).
Abb. 8: Schulklasse in Shanghai (M. Brinkmann, eigene Aufnahme).
Wer in China eine Schule besucht, wird alle drei genannten Charakteristika schnell wiedererkennen. Der Lehrperson wird mit Achtung begegnet. Es herrscht nach europäischen Maßstäben Ordnung, Ruhe und Disziplin, überall hängen moralische Erbauungssprüche für die Schülerinnen und Schüler an der Wand. Die Besten, d. h. die ethisch und sozial vorbildhaften Schülerinnen und Schüler, werden in Form von Wandtafeln geehrt. Es gibt öffentlich ausgestellte Rankings der besten und vorbildlichen Schülerinnen und Schüler und Klassen.
Abb. 9: Moralisch vorbildhafte Schülerinnen und Schüler werden in einem öffentlichen schulischen Aushang geehrt (M. Brinkmann, eigene Aufnahme).
Aber auch die Schattenseiten sind schnell zu sehen: Der kollektive, frontal-orientierte Unterricht lässt Individualisierung und Differenzierung nur in Grenzen zu. Der soziale Druck manifestiert sich in einem facework, das Schülerinnen und Schüler oftmals der Beschämung aussetzt. Verlieren diese ihr »Gesicht«, dann ist zugleich die ganze Familie betroffen. Konkurrenz, Wettbewerb und Privatisierung dominieren in China das Bildungs- und Schulsystem. Die althergebrachte Mentalität der konfuzianistischen Prüfung mit der öffentlich kommunizierten Auslese erzeugt zusammen mit dem facework einen ungeheuren sozialen und individuellen Leistungsdruck, Versagensangst und Stress, denen nicht jede oder jeder gewachsen ist.