Читать книгу Die Wiederkehr des Übens - Malte Brinkmann - Страница 16
1.8 Aus Fehlern wird man klug?
ОглавлениеKönnen, sei es motorisches, geistiges, ästhetisches oder ethisches Können, beruht nicht auf Wissen, sondern auf Erfahrung, die nur durch praktisches Tun erworben werden kann. Eine Schülerin oder ein Schüler der Klasse 3a, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Volkshochschulkurs oder die Fahrradfahrerin oder der Fahrradfahrer sollten nicht nur die Regeln für ihre Tätigkeit kennen, bestimmen und erklären können, sondern sollten sich auch danach verhalten können. Dazu müssen sie die allgemeinen Regeln auf eine besondere Situation beziehen und dort anwenden können. Sie müssen urteilen und oftmals auch situativ entscheiden und handeln können, wie Ärztinnen und Ärzte, die eine Krankheit diagnostizieren, oder Lehrerinnen und Lehrer, die von ihren Plänen abweichen und spontan ein Blitzlicht im Unterricht durchführen. Sie müssen aus der Fülle der Beobachtungen etwas Gemeinsames und Praktikables herauslesen, ein Allgemeines bestimmen und praktisch in Anschlag bringen können. So kann das situative Problem gegebenenfalls besser gelöst werden als durch begriffliche Bestimmung, wissenschaftliche Untersuchung oder Austausch von Regeln. Dazu muss geurteilt werden, indem entweder das Besondere des Falls in das Ganze der Situation eingeordnet und auf diese abgestimmt wird oder indem neue Regeln generiert werden. Letzteres trifft z. B. auf die Kinder der Klasse 3a zu, die allgemeine soziale Regeln erst noch finden wollen.
Ethisches und professionelles Handeln muss genauso wie motorische und geistige Beweglichkeit geübt werden. Im Ausüben können sich die Grundsätze dieses Übens zu einer Haltung verdichten. Eine Haltung nimmt man ein, man bewahrt sie oder kann sie verlieren, vor allem aber zeigt man sie. Sie kann fest sein oder mehrdeutig. Mit der Haltung stellt man sich auf bestimmte Art und Weise der Welt gegenüber. Das zeigt sich in der leiblichen und körperlichen Haltung (z. B. als schief, gerade, schlaff, stramm usw.). Haltungen beinhalten damit immer auch Bewertungen und Positionierungen ( Kap. 8.4). Sie rekurrieren auf Unterscheidungen und damit auf Urteile. Haltungen, die man gut findet, haben in der europäischen Tradition den Namen Tugend (im griechischen Sinne von Tüchtigkeit, arete). Im Griechischen heißt Haltung ethos. Um das Gute (agathon) zu bestimmen, setzt Aristoteles bei den praktischen Erfahrungen und Verrichtungen, beim Konkreten und Faktischen an (vgl. Aristoteles 1985). Hier kommt die Wiederholung als Kernelement von Erfahrung und Übung ins Spiel. Aristoteles sagt, dass moralisches Verhalten nur dadurch gelernt wird, dass getan wird, was gelernt werden soll – und das »asketisch« (ebd., S. 1103a). Askesis ist das griechische Wort für Übung. Moralisches Verhalten, ob es das Gute bewirkt oder verfehlt, wird geübt. Ethos ist also eine Haltung, die durch Übung erworben wird. Sie basiert wie die Gewohnheit auf Dauer und Wiederholung. Im Unterschied zur Gewohnheit aber verweist die Haltung auf eine reflexive Bezugnahme zu diesen Gewohnheiten. Über diese wird im Üben geurteilt. Die der Haltung zugrunde liegende, reflexive und bewertende Praxis ist nicht ausschließlich als Denktätigkeit zu sehen. Sie ist – so die in diesem Buch vertretene Position – als Urteilsfähigkeit immer als Antwort auf Andere und Anderes zu sehen. Sie basiert auf dem stellungnehmenden Leib und auf der menschlichen Verletzlichkeit. So zeigt sich eine Haltung und zugleich zeigt sich darin jemand als jemand Bestimmtes Anderen gegenüber. Eine Haltung beruht auf einem Unterscheiden können und Urteilen können ( Kap. 8.4). Sie manifestiert sich in einer Stellungnahme oder Positionierung: Eine Haltung zeigt sich, nachdem und indem man Urteile fällt und aus unterschiedlichen Möglichkeiten wählt. Dieses kann geübt werden – insbesondere in pädagogischen Settings wie dem Unterricht ( Kap. 8.5). Diese urteilende Entscheidungsfähigkeit bezeichnet Aristoteles als verständige Klugheit bzw. praktische Klugheit (phronesis), die als Mit-zu-Rate-gehen, als Hin-und-herüberlegen und als gemeinschaftliches, soziales und politisches Beraten übersetzt werden kann (vgl. Fink 1970b, S. 206 ff.; Kap. 6).
Das bedeutet: Nicht jede und jeder wird aus Fehlern klug, sondern nur diejenige oder derjenige, die oder der mit ihren Fehlern, ihrem Scheitern oder ihren negativen Erfahrungen urteilsreflexiv umzugehen vermag. Der Umgang mit Fehlern ist weder nur angeboren noch nur auf Wissen gegründet, sondern beruht auf Erfahrung und Praxis und muss wiederholend eingeübt werden. Wenn es im Sprichwort heißt »Aus Fehlern wird man klug«, dann müssen die Qualitäten von »Fehlern« aus pädagogischer Sicht differenziert werden. Denn nicht aus jedem Fehler wird man »automatisch« klug (vgl. Breinbauer 2006). Es ist zu fragen, aus welchen Fehlern man auf welche Weise klug wird. Welche Erfahrung ist eine pädagogisch sinnvolle Erfahrung? Wie kommt es im Üben zur Reflexion und zum Urteil ( Kap. 8.4)? Welche Erfahrungen sollten begrenzt bzw. ausgeschlossen werden? Wie kann im Urteil das Besondere des Falls, über den geurteilt wird, wieder in den Kontext bzw. Horizont eingefügt werden?
Denn nur wenn das Besondere der Situation in den Erfahrungszusammenhang gestellt und verstanden wird, kann man aus Fehlern klug werden – das gilt beispielsweise für das Fahrradfahren, das Urteilen im Klassenrat, das Meditieren, das Verstehen von Anderen ebenso wie für das Lösen von Mathematikaufgaben. Das Üben isolierter Bewegungen, Informationen, Regeln oder Gedanken kann zwar effektiv sein, führt aber nicht dazu, dass die Bewegungsfolge, der Text, die Situation, die gemeinschaftliche Bemühung als Ganzes im Kontext wahrgenommen und daher gekonnt wird. Isoliertes und mechanisches Trainieren von Informationen, Bewegungen, Regeln oder bestimmten Gedanken kann sogar dazu führen, dass die Übung scheitert. Die Isolierung führt zu einer Fixierung auf Details, die sich zunehmend immer mehr entzieht. Jeder kennt das sog. »Tausendfüßlersyndrom«, wenn wir z. B. beim Treppensteigen eine Stufe statt dem Treppenabsatz fixieren und dann stolpern. Hier zeigt sich wieder das o. g. Grundproblem intellektualistischer, datengetriebener Lern- und Übungstheorien, die ignorieren, dass »es Dinge gibt, die verschwinden, wenn wir die Hand direkt nach ihnen ausstrecken« (Neuweg 2005, S. 213; Kap. 5.1). Auch in dieser Hinsicht wird das Ideal der Perfektionierung und Optimierung problematisch. Erst wenn isolierte Perspektiven auf Informationen, Daten oder Kompetenzen aufgegeben, dualistische Hierarchien von Körper und Geist, Lernen und Bildung, Wiederholung und Differenz überwunden werden, kann Üben als produktive Lernform und als Lebenskunst in den Blick kommen.
2 https://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/de/allgemeine/forschung-1
3 Diese Regel lautet: »Jeder auftretende Neigungswinkel ist zu kompensieren durch eine Lenkbewegung in die Richtung des Ungleichgewichts, die eine die Wirkung der Schwerkraft aufhebende Zentrifugalkraft auslöst, wobei der Radius der mit der Lenkbewegung beschriebenen Kurve dem Quadrat der Fahrgeschwindigkeit dividiert durch den Neigungswinkel entsprechen muss« (Neuweg 2006, S. 20).
4 Im pädagogischen Diskurs mehren sich die Versuche, nicht Perfektion, Optimierung und Kompetenz, sondern Irritation, Enttäuschung und Fehler als Chance und Ausgangspunkt des Lernens und Unterrichtens zu nehmen, meist im Kontext der »Fehlerkultur«, mit der gegen die traditionelle Vermeidungs- und Schampraxis Fehlern gegenüber angegangen werden soll. Fritz Oser untersuchte Formen des »negativen Wissens«, die im Unterricht für den individuellen Lernprozess fruchtbar gemacht werden sollen (vgl. Oser/Spychiger 2005). Im Bereich der »Meisterlehre« (Collins et al. 1989) wird unter den Titeln »Coaching« und »Scaffolding« auf Fehler und Scheitern eingegangen, aber ohne edukative Überlegungen und ohne direkten Bezug zu negativen Erfahrungen (vgl. Reinmann et al. 2021). Bisher ist noch ungeklärt, was genau ein fruchtbarer, »guter« Fehler ist und was nicht (vgl. Breinbauer 2006, S. 18), ebenso wie kontrovers diskutiert wird, was genau »guten« Unterricht ausmacht (Praetorius et al. 2022). In bildungs- und übungstheoretischer Perspektive erscheint es sinnvoll, nicht nur die Ergebnisse des Lernens – also Erfolge, Outcome oder Scheitern –, sondern den Erfahrungsprozess selbst zu untersuchen. Fehler, so die hier vertretene These, sind nicht Folge falschen Lernens und Lehrens, sondern gehören als negative Erfahrungen elementar zum Lernen und Üben hinzu. Wenn die Chancen und Möglichkeiten in den heteronomen und passiven Bedingungen aufgesucht werden sollen, dann müssen auch gesellschaftliche Bedingungen und der soziale Kontext des Übens einbezogen werden.