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3.3 Kennzeichen chinesischen Übens

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Die konfuzianische Tradition ist nach wie vor sehr lebendig und beeinflusst Bildung und Erziehung in China. Die ursprünglich fünf großen Werke wurden um 1.000 n. Chr. durch vier »große Bücher« abgelöst. Sie gelten als Hauptwerke des Konfuzianismus und waren über 1.000 Jahre Grundlage des chinesischen Prüfungswesens für Staatsbeamte (Mandarine) (vgl. Peng et al. 2018, S. 267; Xu 2007). Diese sind ebenfalls Grundlage einer ethischen Lebensführung und Lebenskunst, die auf Selbstkultivierung und Achtsamkeit (mindfulness) gerichtet ist. Hierin liegt das wesentliche Ziel von Üben, Lernen und Leben. Geübt wird also nicht nur in der Schule: Geübt wird lebenslang.

Lebenslanges Üben ist erstens verbunden mit Anstrengung, Überwindung und Beharrlichkeit. Negative Erfahrungen, Enttäuschungen, Scheitern, Nicht-Wissen und Nicht-Können gelten als notwendige Bestandteile des Übens. Sie werden nicht nur akzeptiert: Das Ethos des Übens verlangt vielmehr nach einer praktischen Auseinandersetzung und Überwindung dieser negativen Erfahrungen. Viele Beispiele aus biographischen Erzählungen, aus den o. g. Forschungen und aus meinen eigenen Beobachtungen zeugen von der enormen Anstrengungs- und Aufopferungsbereitschaft chinesischer Lernerinnen und Lerner (vgl. Li 2012, Lee 1996, Peng et al. 2018). Dies hat selbstverständlich auch problematische Seiten, wenn diese beispielsweise unter neoliberalen Bedingungen in Selbstausbeutung und Selbstoptimierung umschlagen (vgl. Zizek 2020). Wichtig in diesem Zusammenhang ist die verbreitete Einstellung in China, dass nicht individuelle Begabung, sondern Ausdauer und Beharrlichkeit für Fortkommen, Erfolg und Kultivierung von entscheidender Bedeutung sind (vgl. Li 2012, S. 141; Peng et al. 2018, S. 264).

Für Üben ist zweitens Konzentration (zhuanxi) wichtig, d. h. eine polarisierende, kontemplative und achtsame Atmosphäre. Diese wird von Lehrerinnen und Lehrern sowie Eltern gleichermaßen als bedeutsam angesehen. Ruhiges Arbeiten mit wenig akustischer und visueller Distraktion sowie Muße, d. h. Zeit zum Durcharbeiten und Wiederholen, gelten als wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches Üben und Lernen (vgl. Li 2012, S. 145). Die Konzentration als wesentlicher Aspekt der Übung wird in der chinesischen Tradition mit meditativen Praktiken in Verbindung gebracht. Atem, Rhythmus und Achtsamkeit im harmonischen Kontext von Yin und Yang spielen eine entscheidende Rolle. Francois Cheng erklärt beispielsweise zur Übung in der chinesischen Malerei, dass die Kunst des Haltens des Pinsels als ein Ergebnis von großer Konzentration gilt. Konzentration ist hier eine »auf die Spitze getriebene Fülle« (Cheng/Kurtz 2004, S. 92). Der Maler darf nicht eher zu malen beginnen als in dem Moment, »in dem die Fülle seiner Hand ihren Höhepunkt erreicht und schlagartig der Leere nachgibt« (ebd., S. 92). Wenn also der Strich »von Atem beseelt ist« (ebd.), entsteht ein Moment höchster Konzentration, ein Loslassen, das leiblich erfahrbar ist und im Kontext der Malerei mit dem Begriff des »leeren Handgelenks« (ebd., S. 92) umschrieben wird.


Abb. 10: Kalligraphie in China hat eine lange Tradition des Übens (M. Brinkmann, eigene Aufnahme).

Konzentration gilt also als Moment einer angespannten Entspannung bzw. einer entspannten Angespanntheit – ein Aspekt, der im Kontext von Achtsamkeit (mindfulness) und Embodiment in den meditativen Praktiken auch im Westen große Aufmerksamkeit erfährt. Wir können dadurch wichtige Hinweise und einen vertieften Blick auf implizites Wissen im Üben, auf Flow und mindfulness erhalten, wie sie in diesem Buch erläutert werden ( Kap. 6).

Eine von Konfuzius überlieferte Sentenz gibt Hinweise auf einen weiteren, dritten Aspekt des chinesischen Übens. Üben zielt auf breites Wissen und Können und gleichermaßen auf tiefes Verstehen. Letzteres widerspricht der westlichen Überzeugung, dass aus wiederholtem und zunächst imitativem Üben kein reflexives und verständiges Durchdringen der Sache erwachsen könne. Es wurde daraus das »Paradox of the Chinese Learner« konstruiert (vgl. Helmke/Hesse 2003). In der chinesischen Praxis des Übens wird dieser Umstand jedoch keineswegs als Paradox wahrgenommen. Vielmehr gehören hier Wiederholung und vertieftes Verstehen zusammen. Ference Marton und sein Team haben schon in den 1990er Jahren in phänomenologisch orientierten Studien gezeigt, dass chinesische Lernerinnen und Lerner durch Wiederholung, Auswendiglernen und Variation ein vertieftes Verständnis von Aufgaben erreichen (vgl. Marton et al. 1996, vgl. auch Dahlin/Watkins 2000). Asiatische Studierende verbringen, das zeigt eine weitere Studie, mehr Zeit mit Wiederholungen und verbinden diese Stufe für Stufe mit vertieften und reflexiven Lernstrategien (deep level approach) (Helmke/Tuyet 1999). Man kann, das wusste schon Konfuzius, aus dem Alten, aus der Erfahrung und aus der Geschichte, der Biographie, der Gesellschaft, der Gemeinschaft Neues generieren, d. h. kreativ sein: »Das Alte üben und das Neue kennen: dann kann man als Lehrer gelten (温故而知新,可以为师矣)« (Konfuzius 2010, S. 3). Es ist also durchaus möglich, aus der Wiederholung des Alten und Bekannten eine neue und vertiefte Einsicht zu gewinnen! Mit anderen Worten: Die Wiederholung ist produktiv; aus ihrer »verändernden Kraft« (Waldenfels) können neue Erfahrungen und damit neue Erkenntnisse gewonnen werden (vgl. Li 2012, S. 132; Kap. 5.2).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit dem verfremdenden Blick auf das Üben in China einige westliche Stereotypen und Vorurteile in Frage gestellt werden können. Die chinesische Kultur des Übens zeigt, dass erstens Üben und Lernen zusammengehören und in der Praxis nicht voneinander getrennt werden können, dass zweitens Haltungen wie Beharrlichkeit, Sorgfalt, Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer als Voraussetzung und Ziel eines Ethos des Übens gelten und dass diese wichtiger sind als individuelle Begabung. Drittens, dass Wiederholungen und Verstehen, Repetition und Reflexion im Üben zusammenfallen und viertens, dass – statt schnellem Erfolg und plötzlicher Einsicht – Konzentration, Ruhe, Muße und Achtsamkeit wichtig sind und darin Momente von Flow, Gelassenheit und Achtsamkeit möglich werden. Im chinesischen Üben fehlt allerdings eine explizite Thematisierung der negativen Erfahrungen und deren Stellenwert hinsichtlich des Erfahrungsprozesses im Üben. Zudem fehlt aufgrund der Perspektive auf Harmonie eine temporal-theoretische, differenzielle Perspektive auf die Wiederholung, wie sie in Kapitel 5.2 ausführlich vorgestellt werden wird. Mit ihr wird deutlich, dass aus Wiederholungen Differenzen und Transformationen erwachsen können, die bildungstheoretisch von Bedeutung sind. Deutlich wird auch, dass Üben im chinesischen Kontext vor allem ein leiblicher Prozess ist. Eine Theorie des Leibes und der Verkörperung allerdings ist hier nicht vorhanden ( Kap. 5.1).

Üben ist in China an eine konfuzianische Tugendlehre geknüpft, die Selbstkultivierung in den Kontext der Gemeinschaft und den Dienst für die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellt. Dabei spielen Harmonie, Hierarchie und »Gesicht« eine entscheidende Rolle. Damit verbunden sind Vorstellungen von politischer und pädagogischer Wirksamkeit, die dem westlich-europäischen Kausalmuster widersprechen (vgl. Jullien 1999, Jullien 2006). Schon diese wenigen Hinweise machen deutlich, dass eine schnelle und direkte Übertragung auf westliche Zusammenhänge kaum möglich ist. Wird diese gleichwohl vorgenommen, dann zeigen sich perverse Effekte, wie autoritative Erziehungs- und Übungsratgeber deutlich machen (vgl. Chua 2011).

Für den Zusammenhang dieses Buches kann der verfremdende Blick auf China einen Anlass geben, die Grundlagen des Übens noch einmal neu zu reflektieren ( Kap. 4).

9 Im alten Chinesisch gab es für Üben »lianxi« (练习) zwei Zeichen, nämlich »xue« (学) und »xi« (习). »Xue« (学) bedeutet Lernen, »xi« (习) learning by doing bzw. Üben. Im heutigen Chinesisch spricht man nur noch von »lianxi« (练习), »jianxi« (践习) oder »Shijian« (实践). Ich danke für diesen Hinweis den Mitgliedern unseres Forschungsteams Jie Peng, Tao Peng und Juang Gu.

10 Um dieses Problem zwischen Universalismus und Relativismus und um Möglichkeiten und Grenzen, mit und aus China ein verfremdetes Licht auf das westliche Denken zu werfen, kreist die Kontroverse zwischen Jean-Francois Billeter und Francois Jullien (vgl. Baecker et al. 2008).

11 Zur Geschichte des Konfuzianismus im chinesischen Bildungssystem vgl. Peng et al. 2018. Im Zuge der aktuellen, staatlich forcierten Renaissance des Konfuzianismus entstehen in China unter Bedingungen der Globalisierung und Ökonomisierung der Erziehung hybride Formen und Praktiken (vgl. Wu 2019).

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