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1.6 Üben ist nicht Spielen

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Üben ist im Unterschied zum Spiel eine anstrengende und herausfordernde Tätigkeit. Auch wenn man im Üben die Erfahrung der Selbstvergessenheit, des Flow oder der Gelassenheit machen kann, basiert diese immer auf zuvor eingeübten Praktiken. Mit anderen Worten: Um diese Erfahrungen machen zu können, muss man schon etwas geübt haben, muss man schon etwas können, muss man schon in einem Feld oder einer »Domäne« ausgewiesen sein. Spätestens wenn sich negative Erfahrungen einstellen, erfordert das Üben Ausdauer, Beharrlichkeit, Anstrengungs- und Überwindungsbereitschaft – also Tugenden oder Haltungen. Diese ethischen Aspekte werden vor allem im asiatischen Raum, insbesondere in China, mit dem Üben (lianxi) verbunden ( Kap. 3). Die ethische Dimension des Selbstübens und der Selbstsorge machen in Asien ebenso wie in der europäischen Antike und im Mittelalter den bedeutsamsten Anteil des Übens aus – noch vor dem einübenden Erwerb von Fertigkeiten und der ausübenden Vertiefung als Gewohnheit und Habitus. Das Ethos des Übens ( Kap. 3 und 6) als Reaktion auf die allem Üben inhärenten negativen Erfahrungen unterscheidet diese Praxis von der ästhetischen Praxis des Spiels.

Die Ambivalenz des Übens zwischen Perfektion und Negation, zwischen Freiheit und Zwang, Selbstsorge und Fürsorge bewirkt aber eine notorische Unsicherheit der pädagogischen Theoriebildung, um die Praxen des Spielens von jenen des Übens zu unterscheiden. Während die Übung in der Pädagogik wenig gewürdigt wird, steht es um das Spiel anders: Spätestens seit Schiller werden mit dem Spiel Freiheit und Authentizität verbunden. Das hat dazu geführt, dass vor allem ästhetische und kulturelle Bildung mit »Mythen« wie Ganzheit, Totalität und Authentizität verbunden werden, die sie notorisch überfordern (vgl. Brinkmann/Willat 2019). Klammert man diese hehren Hoffnungen und Ziele ein und nimmt die Zeitstruktur des Übens und des Spielens in den Blick, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Schleiermacher bestimmt in seiner Vorlesung von 1826 das Üben als Praxis, deren Ziel in der Zukunft liege. Im Spiel hingegen erfahre man eine Befriedigung in der Gegenwart (vgl. Schleiermacher 2000, S. 56). Spiel ist in dieser Perspektive eigentlich »Anti-Übung« (ebd.), weil es in der Gegenwart aufgeht und sich um die Zukunft nicht kümmert. Aufgrund des Bezuges auf ein Ziel hin wird in der Übung an einem Problem, einer Sache oder an einer Fähigkeit »gearbeitet«. Dies ist anstrengend und oftmals mit Frust, Enttäuschung oder Irritationen verbunden. Im Spiel hingegen werden Stolpersteine entweder nicht oder in einer besonderen Leichtigkeit erfahren. Im kindlichen Spiel ist diese Trennung noch nicht vollständig gegeben. Hier ist der Zukunftsbezug im Spiel gleichsam implizit mitgegeben. Erst später, so Schleiermacher, lassen sich Spielen und Üben aufgrund zunehmender »Progression« und Reflexivität auseinanderhalten. In diesem Buch wird im Unterschied zu Schleiermacher, der eine teleologische und entelechische Struktur des Lernens unterstellt, die Zeitstruktur des Übens genauer als differenzielle und diskontinuierliche bestimmt. Üben als Wiederholen – so die im Folgenden vertreten These – basiert nicht auf einer Teleologie, sondern auf einer zeitlich erfahrbaren Differenz, die die Performativität des Übens begründet ( Kap. 5.2). Gleichwohl bleibt auch in dieser Perspektive der systematische Unterschied zwischen Spielen und Üben bestehen.

Es lässt sich noch ein weiterer Aspekt dieses Unterschieds benennen: Spielen bewegt sich im »schönen Schein« (Schiller) und transzendiert darin die Wirklichkeit (vgl. Fink 1960). Die Praxis des Übens ist hingegen ein Handeln auf Probe. Im Unterschied zum »schönen Schein« des Spiels ist die Als-ob-Situation des Übens auf die Wirklichkeit bezogen. Sie ist darauf gerichtet, zu einem späteren Moment selbst Wirklichkeit zu werden und darin praktiziert zu werden. Hierin wird nicht die Wirklichkeit transzendiert, vielmehr erwächst aus dem Üben die Möglichkeit, dass sich die oder der Übende transzendiert, d. h. kultiviert, transformiert und darin ihr oder sein Selbst- und Weltverhältnis (Humboldt 1963b) verändert – mit anderen Worten: eine bildende Erfahrung macht (vgl. Buck 2019, Brinkmann 2019d).

Die Wiederkehr des Übens

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