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2.1 Wiederkehr der Übung?
ОглавлениеIn der letzten Dekade zeichnet sich auch im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs eine Wiederkehr der Übung ab. In der Soziologie, Philosophie, Psychologie und den Erziehungswissenschaften rückt das Üben vermehrt in den Fokus. Sloterdijk (2009) betont, wie am Beispiel Unthans dargestellt, den Perfektionismus der Übung. Der Fokus liegt bei ihm darauf, etwas nicht nur zu können, sondern etwas willentlich immer besser zu können und damit die Möglichkeit zu haben, sein Leben zu ändern und zu verbessern. Er betrachtet unterschiedliche Bereiche wie Religion, Wissenschaft, Kunst, Sport und Pädagogik. Seine These lautet, dass sich spätestens mit der »anthropotechnische(n) Wende« (ebd., S. 139) um 1900 eine Rehabilitierung der alteuropäischen Askese ereignete, die sich in den Akrobaten des Körpers (olympische Bewegung, Sportlerinnen und Sportler) und des Geistes (Schriftstellerinnen und Schriftsteller) ankündigt. Diese gelangen durch Übung zu bis dahin ungeahnten Leistungen, die jeweils von nachgeborenen Expertinnen und Experten immer wieder übertroffen werden. Mit dem Aufruf »Du musst dein Leben ändern!« verbindet sich so die Hoffnung auf eine gesteigerte kulturelle Evolution. Sloterdijks Vorhaben, die Übung von den christlichen Buß-Praktiken zu lösen und die produktiven Bezüge zwischen Askese und Übung in Selbstsorge und Selbstperfektionierung zu betonen, ist nur zu begrüßen. Allerdings ist in seiner perfektionszentrierten Darstellung eine Sicht auf Übende jenseits von Leistungs- und Outputorientierung nicht gegeben (vgl. Brinkmann 2010).
Im Unterschied zu dieser perfektionsorientierten Sicht nimmt der amerikanische Kultursoziologe Richard Sennett in seiner Studie zum »Handwerk« konkrete Praktiken in den Blick und stellt Überlegungen zu einer Didaktik der Übung an (vgl. Sennett 2008). Er untersucht darin vor allem vormoderne (kunst-)handwerkliche Praxen wie Goldschmieden, Geigenbau, Glasblasen, Kochkunst, aber auch Instrumentalspiel. Seine Ausführungen bieten eine Fülle von wichtigen Einsichten zur Didaktik der Übung am Beispiel der menschlichen Hand und des Handwerks. Da Sennet sich in seiner Studie vornehmlich auf vormoderne (kunst-)handwerkliche Traditionen bezieht, favorisiert er auch imitatorische und mimetische Formen der Übung: Der Lehrling macht es dem Meister nach und gleich. Komplexere geistige und mentale Übungen oder auch komplexere didaktische Praktiken der Übung kommen nicht in den Blick ( Kap. 7.3).
Eine ganz andere Perspektive auf das Üben nimmt die ältere Hirnforschung ein. Hier werden wiederholende Übungen als erfahrungsabhängige und erfahrungsbildende Bahnung von Nervenzellen im »selbstreferentiellen System« Gehirn thematisiert, deren Vernetzung motorisches, volitionales und emotionales Handeln prädisponiert (Roth 2003, S. 154 ff., S. 462 ff., S. 480 ff.). Damit kann ein Zusammenhang zwischen Erfahrung und Reifung empirisch belegt werden. Übung wird hier als Bahnung von Nervenzellen verstanden, mit der diese angeregt und durch weiteren Gebrauch verstärkt wird (»neurons that fire together wire together«) (vgl. Baars/Gage 2010, S. 83). Ihre Position kann im Gehirn mittels bildgebender Verfahren lokalisiert und ihre Verschaltung dargestellt werden. Um Reaktionen, Bewegungen und Handlungen erklären zu können, greift die Hirnforschung auf eine kognitionstheoretische, dualistische Modellierung des Gedächtnisses zurück. Sie unterscheidet zwischen deklarativem und prozeduralem Gedächtnis, wobei hiermit zugleich deklaratives und prozedurales Wissen gemeint ist (vgl. Anderson 2001). Damit wird das ursprünglich angenommene und diagnostizierte Kontinuum komplexer Vernetzungen von Wahrnehmen, Fühlen, Handeln (Prinzip des common coding) in eine Anzahl zeitlich aufeinanderfolgender Repräsentationen und Operationen aufgespalten. In der Kontinuität sukzessiver Operationen erscheint Übung wiederum als sekundäre Lernform. Temporale Differenzen und negative Erfahrungen können damit nicht eingeholt werden ( Kap. 4.3). Aktuelle neurophänomenologische Zugänge versuchen unter dem Titel Embodiment die Einseitigkeiten und die damit verbundenen methodologischen und epistemologischen Probleme der Neurophysiologie und der Kognitionswissenschaften auf ein neues, »verkörpertes« Fundament zu stellen. Im Anschluss an Varela (Varela et al. 2016) und Merleau-Ponty (1974) soll deutlich werden, dass Kognition im Körperlichen und Leiblichen verankert ist (Fuchs 2009; ausführlicher Kap. 6.4).
Der amerikanische Psychologe Karl Anders Ericsson hat das Konzept der deliberate practice (der zielgerichteten Übung) entwickelt, mit dem außergewöhnliche Leistungen von Experten wie Schachgroßmeisterinnen und Schachgroßmeistern, Violinistinnen und Violinisten, Klaviervirtuosinnen und Klaviervirtuosen und Sportlerinnen und Sportlern empirisch untersucht und auf gezieltes Üben zurückgeführt werden können (vgl. Ericsson et al. 1993). Als Experte gilt, wer dauerhaft in einem Tätigkeitsfeld herausragende Leistungen bringt. Gezieltes Üben ist eine im höchsten Maße anstrengende Tätigkeit, die keinen Spaß macht. Um damit Leistungsverbesserung zu erreichen, müssen typische Rahmenbedingungen und Ressourcen wie Instrumente, Lehrerinnen und Lehrer und soziales Milieu in einer klar definierten Domäne vorhanden sein, und die übende Person muss motiviert sein, ihre Leistung steigern zu wollen. Die Untersuchungen zeigen, dass im Alter von 20 Jahren die besten Experten ungefähr 10 Jahre insgesamt etwa 10.000 Stunden geübt haben, wobei sich die täglichen vier Stunden gezielter Übung mit Ruhezeiten abwechselten. Gezielte Übung ist daher weitaus bedeutsamer für Erfolg und Leistung als natürliche Begabung. Der qualitative Unterschied zwischen guten und weniger guten Experten eines bestimmten Übungsfeldes (Domäne) wird ebenfalls mit der Theorie kognitiver Repräsentationen und einer modifizierten Form der Speicherung im deklarativen Gedächtnis sowie deren »Verwendung« im prozessualen Gedächtnis erklärt. Allerdings werden auch hier Fehler, Scheitern, Mittelmaß und Normalbiographie ausgeblendet, ebenso wie gesellschaftliche, soziale und individuelle Kontexte, sofern sie nicht affirmativ das Ziel und die Norm der Perfektionierung bestätigen (vgl. Brinkmann 2012, S. 73–80).
Die Erkenntnisse der Expertiseforschung sind für die erziehungswissenschaftliche Professions- und Kompetenzforschung von großer Bedeutung. Der Kompetenzbegriff der Bildungsforschung ist in wesentlichen Teilen der Expertiseforschung entnommen. Nach Weinert und Klieme lässt sich der »dort verwendete Kompetenzbegriff (…) hervorragend auf den schulischen Bereich übertragen« (Klieme 2003, S. 72 f.) und für psychometrische Verfahren der Leistungsmessung nutzen. Das »funktionalistische« Kompetenzmodell, das sowohl PISA als auch den Bildungsstandards der KMK zugrunde liegt, hat den Anspruch, »die Verbindung zwischen Wissen und Können« (ebd.) herzustellen. Weinert fokussiert das Konzept der kognitiven Kompetenzen auf einen begrenzten Bereich von Wissen, Fertigkeiten, Metawissen und fächerübergreifendem Wissen. Dieses wird als Handlungs- bzw. Problemlösekompetenz gefasst. Der Übergang vom Wissen zum Können bzw. die Performanz von Kompetenz wird wiederum, wie in der Kognitionspsychologie und der Hirnforschung, als Prozeduralisierung von kognitiv gespeichertem, deklarativem Wissen bestimmt.
Im Zuge kognitivistischer und konstruktivistischer Theorien werden seit einiger Zeit Hoffnungen auf »elaboriertes Üben« geweckt. Es ist von einer »Wiederkehr des Übens« (Duncker 2008, S. 224) und von »intelligentem Üben« (Meyer 2004, Gudjons 2006) die Rede. In den Bildungsstandards der Fächer Mathematik, Französisch und Englisch wird der hohe Stellenwert des Übens gemäß dem konstruktivistischen Theorem der Selbstregulation als reflektierendes, flexibilisierendes und vernetzendes Üben gefasst. »Lernerorientierte Aufgaben« in authentischen Sprechsituationen in mathematischen Modellierungsaufgaben sollen eine Abkehr vom alten, repetitiven Päckchenrechnen bringen und Eigenaktivität und Eigenverantwortung der Lernerinnen und Lerner sicherstellen. Auch in der Fremdsprachendidaktik sollen nach dem task based approach to language learning reflexive Aufgaben einen übenden Zugang ermöglichen. In authentischen, lebensweltlich orientierten Sprechsituationen soll sich das an der Sprachpraxis orientierte Fremdsprachenlernen vom »alten« grammatikbasierten Unterricht abgrenzen. Übungen spielen auch hier eine zentrale Rolle (vgl. Brinkmann 2020c, 2014a; Kap. 7).
»Intelligentes Üben« (Leuders 2005) wird auch im Qualitätsdiskurs im Zusammenhang mit dem Konzept der kognitiven Aktivierung (Bohl 2012) für erfolgreichen und guten Unterricht gefordert, gemessen und evaluiert (Helmke 2007). Die Merkmalslisten für »guten Unterricht« von Meyer und Helmke haben einen überfachlichen Anspruch. Sie entstammen der quantitativen empirischen Forschung, die auf psychometrischen, experimentellen und statistischen Testverfahren und der kognitiven Kompetenztheorie aufbaut und sich v. a. auf Forschungen aus dem Bereich der mathematischen literacy (Grundbildung) stützen. Allerdings muss eingestanden werden, dass eine kognitive Aktivierung im Fach Kunst anders als im Fach Französisch oder Sachkunde erfahren wird. Zudem ist fraglich, ob für den Erwerb von praktischen Fertigkeiten, individuellen Haltungen wie Gelassenheit und Gerechtigkeit und sozialen Fähigkeiten nur Kognition als Paradigma ausreicht. Implizites Wissen, sozial erworbene Habitualisierungen und körperlich-leibliche Schematismen sind ebenso im Üben wirksam und entziehen sich einem ausschließlich kognitiven und expliziten Zugang.
Eine andere, interessante Variante der Übungsformate findet sich in Bildungsstandards für das Fach Ethik, wie sie im Moment im Kontext des internationalen Projektes »ETiK« in Berlin entwickelt werden. Darin wird Urteils- und Reflexionskompetenz in pluralen Urteilsformen bildungstheoretisch ausgewiesen, in Teilkompetenzen differenziert und interkulturell pluralisiert (vgl. Benner/Nikolova 2016). Mit diesen Aufgabenformaten werden ältere behavioristische didaktische Modelle der Übung entscheidend modifiziert (vgl. Aebli 1985, Bönsch 2005). Mit ihnen können Prozesse beim Üben analytisch und graduell bestimmbar sowie Fehler didaktisch produktiv nutzbar werden.
Kompetenzorientierte Aufgabenformate übernehmen so eine wichtige Funktion in den Bildungsstandards und den angegliederten Leistungstests. Als didaktische Aufgaben im unterrichtlichen Interaktionsprozess eingesetzt, können mit ihnen Prozesse beim Üben analytisch und graduell bestimmbar sowie Fehler didaktisch produktiv nutzbar werden. Variationen können gezielt implementiert werden, um Reflexionen im Sinne von Selbstkorrektur zuzulassen. Diese z. T. sehr elaborierten Aufgabenformate können als Anzeichen für eine neue Aufmerksamkeit auf Üben und Übung gelten (vgl. Brinkmann 2014a). Damit werden ältere Konzepte der Übung entscheidend modifiziert. Jene orientierten sich noch an den von Thorndike vor über hundert Jahren aufgestellten behavioristischen »Gesetzen der Übung«, die in unterschiedlicher Reihenfolge und Gewichtung jeweils zusammengestellt werden (vgl. Bönsch 2005).
Gleichwohl erscheint sowohl in Forschung als auch in der pädagogischen Praxis eine pädagogische Theorie notwendig, die systematisch grundlegende Aspekte dieser elementaren Lernform zusammenführt, diese für Fächer und Fachdidaktiken nach deren eigener Logik spezifiziert und eine theoretische Modellierung für empirische Untersuchungen der pädagogischen Übung bereitstellt. Grundlagentheoretisch ist immer noch umstritten, was genau unter Üben zu verstehen ist und wie Üben funktioniert. Methodologisch ist ungeklärt, wie man Üben in allen seinen Facetten empirisch erfassen kann.