Читать книгу Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts - Marco Mansdörfer - Страница 68
aa) Gefährdungstatbestände als Tatbestände zur Durchsetzung der demokratisch festgelegten Allokation von Risiken in konkreten Erfahrungsräumen
Оглавление154
Zur näheren Untersuchung der Gefährdungsdelikte ist die Unterscheidung zwischen abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten geläufig. Im Schrifttum wird zum Teil innerhalb der abstrakten Gefährdungsdelikte deskriptiv zwischen konkreten Gefährlichkeitsdelikten, Eignungsdelikten, Kumulationsdelikten, Vorbereitungsdelikten und rechtsgutslosen Delikten differenziert[340] und versucht, für jede Deliktsgruppe die maßgebenden Legitimationskriterien zu spezifizieren[341]. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen den einzelnen neuen Deliktstypen ist bislang aber nicht gelungen und auch das kritische Potential ist für die hier im Vordergrund stehende Diskussion individueller Handlungssteuerung gering.
155
Zieschang weist in seiner Untersuchung der Gefährdungsdelikte auf das Problem hin, dass einige Gefährdungsdelikte so weit gefasst sind, dass sie im Einzelfall auch bloße Verstöße gegen Form- und Ordnungsvorschriften erfassen[342]. So pönalisiert etwa das Unerlaubte Betreiben von Anlagen im Sinne von § 327 Abs. 2 StGB im Grunde die Nichteinhaltung behördlicher Genehmigungsverfahren ohne Rücksicht auf aus einem Verstoß gegen diese Pflichten resultierende echte Gefahren für die Umwelt[343]. In ähnlicher Weise pönalisiert § 283 Abs 1 Nr. 7b StGB die Nichteinhaltung handelsrechtlicher Bilanzvorschriften, ohne dass sich dadurch die Position der Gläubiger tatsächlich verschlechtern muss[344]. Mit Blick auf die oben angedeuteten verschiedenen kommunikativen Gehalte der Strafe sind solche Straftaten bedenklich. De lege ferenda wäre es vorzugswürdig, solche Verhaltensweisen nicht als Straftaten, sondern als Ordnungswidrigkeiten zu bestrafen, und sich wieder vermehrt der Technik der sog. unechten Mischtatbestände zu bedienen[345]. Beispielhaft kann insoweit auf § 2 WiStG verwiesen werden: Danach sind Straftaten gem. § 1 WiStG als Ordnungswidrigkeiten zu behandeln, wenn die Tat ihrem Umfang und ihrer Auswirkung nach nicht geeignet ist, die Verwirklichung der Ziele, denen die in § 1 WiStG genannten Rechtsvorschriften zu dienen bestimmt sind, merkbar zu beeinträchtigen[346].
156
Kindhäuser sieht – zum Teil im Anschluss an Binding[347] – das Wesen des Gefährdungsdelikts im Schutz von Vertrauen und Sicherheit[348]. Dabei sind Vertrauen und Sicherheit insoweit austauschbar, als der Begriff des Vertrauens den psychologischen Reflex auf ein objektives Datum der Sicherheit darstellt. Die psychologisierende Betrachtung führt also insoweit in die falsche Richtung, als damit, soweit eine positive Verletzung des Rechtsgutes beschrieben werden soll, der grundlegende Unterschied zwischen Verletzung und Gefährdung aufgegeben wird. Kindhäuser geht daher einen richtigen und entscheidenden Schritt weiter und untersucht die Bedeutung von Sicherheit im Rahmen sozialer Interaktion: Die von den Gefährdungsdelikten geschützte Sicherheit ist danach dann gefährdet, wenn ein Verhalten die durch die Gesellschaft festgelegte Verteilungsordnung von Risiken verletzt[349]. Gefährdungsdelikte dienen also dazu, die demokratisch festgelegte Allokation von Risiken strafrechtlich durchsetzen zu können.
157
Zu diesem Zweck stellen Gefährdungsdelikte im Gegensatz zu den allgemeinen Verletzungsdelikten auf einen konkreten Erfahrungsraum ab[350]. Sie sind auf spezifische Ereignisse fokussiert und berücksichtigen deren zeitlichen, örtlichen und sozialen Kontext.
Beispiele für Erfahrungsräume:
Die Gefahr des Todes oder einer lebensgefährlichen Gesundheitsschädigung, wenn jemand in hilfloser Lage ausgesetzt oder im Stich gelassen wird; die Gefahr einer erheblichen Störung des individuellen Rechtsfriedens, wenn eine Person mit der Begehung eines Verbrechens bedroht wird; Gefahren durch große Brände oder Umweltverschmutzungen, die geeignet sind, die menschliche Gesundheit zu schädigen; der Umgang mit gefährlichen Stoffen und das Verhalten in für eine moderne Industriegesellschaft notwendigen Institutionen, wie etwa in einem funktionierenden Waren-, Kapital- oder Arbeitsmarkt.
Der Gesetzgeber kann und muss dem Einzelnen hier genau sagen, welche Pflichten er zu erfüllen und welche Handlungen er zu unterlassen hat[351]. Jakobs gelangt daher zu dem Schluss, die Normen der abstrakten Gefährdungsdelikte hätten oft die Funktion, die Normgeltung von Verletzungsverboten flankierend zu sichern und die Abweichung von Standards zu sanktionieren[352]. Das Gefährdungsdelikt ist damit die typische Deliktsform des Nebenstrafrechts.
158
Der Strafgrund des Gefährdungsdelikts liegt in der Vornahme einer (straf)rechtlich missbilligten Handlung, der ein typisches Gefährdungspotential immanent ist[353]. Das Verbot betrifft einzelne Handlungen oder auch nur einzelne Handlungsweisen, denen rechtlich nicht tolerierte Verletzungsrisiken innewohnen[354]. Der Einzelne muss demnach Sorge tragen, dass er diese Verhaltensweisen nicht an den Tag legt, da ihm insoweit kein äußerer Freiraum zusteht[355].