Читать книгу Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts - Marco Mansdörfer - Страница 79
a) Abweichung gegenüber dem klassischen Postulat der Subsidiarität des Strafrechts: Perspektivenwechsel von der Legitimation individueller Strafe zur Gestaltung sozialer Institutionen
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Die vorstehenden Ausführungen, insbesondere zum Zweck der Strafe, zum Inhalt der Sanktion im Wirtschaftsstrafrecht und zum Normadressaten in seiner Funktion als Wirtschaftsteilnehmer, haben für das Wirtschaftsstrafrecht eine signifikante Abweichung gegenüber dieser klassischen Auffassung deutlich werden lassen. Der materiale Kern dieser Abweichung liegt in dem bereits zu Beginn der Abhandlung angedeuteten Perspektivenwechsel[378]. Diskutiert wird nicht die Legitimation der Bestrafung des Einzelnen, sondern die funktional angemessene und wirtschaftsverfassungsrechtlich legitimierbare normative Steuerung einer Sachmaterie und die dadurch mitbedingte Gestaltung wirtschaftlicher Institutionen durch den Einsatz von Strafe zum Zwecke der Sanktionierung einer Überschreitung rechtlich zugebilligter Handlungsspielräume[379].
Beispiel zu diesem Perspektivenwechsel:
Im Rahmen des klassischen Kernstrafrechts wird die Bedeutung der Tötungstatbestände im Schutz des menschlichen Lebens gesehen und der Todesbegriff in einer Weise definiert, der diesem Zweck am besten gerecht zu werden erscheint. In der Medizin (als einem Teilbereich der Wirtschaft) beschreibt gerade das strafrechtlich fixierte Datum des Todeszeitpunkts der Transplantationsmedizin oder der Forschung wichtige Grenzen ihrer Handlungsfreiräume[380].
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Damit unterscheidet sich der hier vertretene Ansatz aber auch von der herrschenden Meinung im Wirtschaftsstrafrecht: Diese verlangt zur Legitimation der Einschränkung des ultima ratio Grundsatzes einen positiven Saldo der durch eine strafrechtliche Norm beschränkten Freiheit mit den durch alternative Regelungssysteme verbundenen Freiheitseingriffen[381]. Eine solche Auffassung interpretiert die Verpflichtung des Staates auf die Gewährleistung und Schaffung individueller Freiheit insoweit fehl, als die Freiheit Dritter nicht mit individueller Freiheit saldiert werden kann. Hoheitliche Eingriffe in individuelle Freiheiten stehen grund- und menschenrechtlich vor einem strengen Vorbehalt der Erforderlichkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen. Die Schwere des Eingriffs fordert mehr als nur einen im konkreten Fall über die individuelle Freiheitsbeschränkung hinausgehenden Freiheitsgewinn Dritter. Erforderlich ist eine insgesamt am Postulat größtmöglicher individueller Freiheit ausgerichtete Gestaltung staatlicher Institutionen einschließlich des Wirtschaftsstrafrechts. Eine Norm ist daher dann gerechtfertigt, wenn der Einzelne – losgelöst von der konkreten Situation – in einer Rechtsordnung, in der die betreffende Norm gilt, insgesamt größere Freiheitsräume hat, als wenn diese Norm nicht gelten würde.