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2.2.3 Narratio und Moralisatio

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Die Ambiguität und das kontroverse Potential versnovellistischen Erzählens, insbesondere der Bruch mit der strikten Lehrhaftigkeit des exemplarischen Erzählprinzips, resultieren häufig aus semantischen Inkongruenzen zwischen den exemplarischen Geltungsaussagen der Texte und dem Erzählverlauf.1 Geltungsbehauptungen werden besonders häufig in Pro- und Epimythien formuliert. Prologe sind wichtige Bereiche der Sinnkonstitution und der Funktionalisierung des Erzählens; durch die Vorreden wird nicht nur in die Narration eingeführt, sondern auch der Fokus gezielt auf bestimmte Aspekte der Erzählung gerichtet oder sogar eine konkrete Erzählfunktion formuliert.

Deutungen des Erzählens, die oft mit konkreten Moralisierungen einhergehen, finden sich insbesondere in den Epilogen. Etwa zwei Drittel des von Fischer definierten versnovellistischen Textkorpus führt Schlussreden auf,2 in denen die Verknüpfung der Versnovellen mit ihrer exemplarischen Texttradition besonders augenscheinlich wird: Epiloge signalisieren eine besondere Lehrhaftigkeit, denn das argumentative Erzählen der Exempla und anderer auf Belehrung ausgerichteter Textsorten basiert wesentlich auf einer Auslegung, durch die das Erzählte für eine moralische Belehrung produktiv gemacht wird.3 Den Epilogen kommt damit die Funktion zu, einen Bezug zwischen der erzählten Begebenheit und einer übergeordneten Gültigkeit oder Norm herzustellen. Indem die Pro- und Epimythien zumeist eindeutig der Stimme des Erzählers bzw. Autors als einer der erzählten Welt hierarchisch übergeordneten Instanz zugeordnet sind, haben die hier getätigten Geltungs- und Deutungsaussagen besonderes Gewicht.

Bereits Fischer stellt aber insbesondere für die schwankhaften Versnovellen fest, dass die moralisierenden Schlüsse selten tatsächlich der „Verlautbarung auf die erzählte Geschichte bezogener Maximen“ dienen,4 stattdessen vermitteln die Epiloge häufig allgemein gehaltene Sentenzen, lebenspraktische Ratschläge und Alltägliches über die Verfasstheit der menschlichen Natur, die in ihrer Banalität oft nicht zu den erzählten Geschichten passen.5 Die Epimythien kennzeichnet aber nicht nur eine unpointierte Allgemeingültigkeit von Geltungsaussagen, es begegnen auch Moralisationen, die nicht nachvollziehbar sind oder deren Aussagen sich nicht aus der Erzählung herleiten lassen. Vielfach ist ein Auseinanderfallen zwischen der erzählten Geschichte und der behaupteten Moralisierung fassbar; die Pro- und Epimythien gestalten Sinnaussagen, die keineswegs immer in der erzählten Geschichte verankert sind oder dieser sogar widersprechen.6

Fischer führt die Inkongruenzen zwischen narratio und moralisatio auf die literarische Tradition des Exempels zurück, von dessen Prinzipien sich die Verfasser der Versnovellen noch nicht gelöst, die sie aber nicht mehr plausibel in die Erzählungen integriert hätten.7 Ragotzky stellt dagegen eine grundsätzliche Variabilität der Geltungsbezüge in den Epimythien heraus. Mit der Einordnung als zwar variable, aber dennoch grundsätzlich funktionierende „Gebrauchsanweisung für die vorausgegangene Geschichte“, die deren „besondere literarische Orientierungsleistung“ unterstreichen würde,8 wird allerdings der normative Anspruch des Epimythions an sich nicht in Frage gestellt.

Das häufig widersprüchliche Verhältnis der Epimythien zu den erzählten Geschichten ist aber nicht nur als Indiz einer selektiven Diskursgestaltung zu verstehen, sondern die semantischen Divergenzen und Brüche sind integraler Bestandteil der Bedeutungskonzeption der Texte.

Paradebeispiel für die widersprüchliche Gestaltung von Geltungsaussagen und Narration ist ‚Die unschuldige Mörderin‘ Heinrich KaufringersKaufringer, Heinrich›Die unschuldige Mörderin‹.9 Die Erzählung wird mit einem Promythion eingeleitet, das den Glaubenssatz von Gottes Beistand für den unschuldig in Not geratenen Menschen aufruft, wenn dieser an seinem Gottvertrauen festhält und sein Schicksal in Gottes Hände legt. Die folgende Geschichte wird als eine dieser christlichen Lehre entsprechende prototypische Beispielerzählung angekündigt.

Tatsächlich gerät die adlige Protagonistin in eine unverschuldete Notlage, indem sie unmittelbar vor der geplanten Hochzeit mit dem König nachts von einem Ritter aufgesucht wird, der sich als der künftige Ehemann ausgibt und vorehelichen Beischlaf verlangt. Die Gräfin wägt ihr Dilemma ab und entschließt sich, lieber den Ehrverlust als die Ungnade des königlichen Bräutigams im Falle einer Zurückweisung in Kauf zu nehmen. Als sie nach vollzogenem Beischlaf den Betrug erkennt, reagiert sie bemerkenswert prompt und schneidet dem Ritter den Kopf ab. Daraus resultiert ein neuerlicher Konflikt, denn die Gräfin kann den toten Körper nicht allein entfernen und bittet den Torwächter des Schlosses um Hilfe. Dieser nutzt die Situation, um seinerseits Beischlaf von der Gräfin zu erpressen, bevor er den toten Ritter zum Brunnen trägt und hineinwirft. Die Gräfin zeigt nach dem neuerlichen Ehrverlust den gleichen zielstrebigen Pragmatismus wie dem Ritter gegenüber und schubst den Torwächter in den Brunnen. Im Folgenden zieht die Protagonistin alle Register kalkulierten Listhandelns, das in einen weiteren Mord mündet: Um den Verlust ihrer Jungfräulichkeit zu verheimlichen, nutzt die Gräfin das literarisch prominente Mittel des Brautunterschubs und lässt eine Zofe an ihrer Stelle die Hochzeitsnacht mit dem König verbringen. Als diese entgegen der Absprache keine Anstalten macht, das Ehebett zu räumen und der Betrug damit aufgedeckt zu werden droht, zündet die Gräfin das Schlafzimmer an und rettet nur den König, während die Zofe verbrennt.

Auf den letzten Mord folgt ein erheblicher Zeitsprung, der Erzähler berichtet denkbar knapp, dass die Königin nach 32 Jahren einträchtigen Ehelebens unvermittelt von Reue geplagt wird und ihrem Mann das Geschehene beichtet.10 Dieser verzeiht ihr freimütig und verspricht, sie noch mehr wertzuschätzen. Es folgt ein abschließendes Resümee der Geschehnisse durch den Erzähler, der sowohl die Unschuld und tadellose Gesinnung der Königin als auch die Bosheit und Niedertracht ihrer Gegenspieler ostentativ betont und erklärt, dass diese zu Recht den Tod gefunden hätten. Die Rettung der Königin wird als unmittelbares Wirken Gottes bezeichnet, ohne dessen Hilfe sie sich nicht aus ihrer misslichen Lage hätte befreien können. Die Erzählung schließt mit einem Epimythion, das in kohärenter Anknüpfung an das Promythion die verlässliche Gnade Gottes gegenüber den Bedrängten preist.

Zahlreiche Signale innerhalb der erzählten Geschichte evozieren Zweifel an den Kommentaren des Erzählers, der die Gräfin wiederholt als rain und edel attributiert und immer wieder die Notlage betont, aus der sie gehandelt habe. So findet die Gräfin nicht nur viel Gefallen an der Liebesnacht mit dem Ritter – von dem beiläufig erwähnt wird, dass er dem König so gar nicht ähnlich sieht –, ihr Handeln wird auch überdeutlich in seiner Kaltblütigkeit und seinem eigennützigen Kalkül herausgestellt und ist keineswegs immer durch äußere Bedrängnis gedeckt.

Die signifikanteste Inkohärenz zwischen den Geltungsaussagen des Erzählers und der Narration stellt die Behauptung göttlichen Beistands als unmittelbar wirksames Handlungsprinzip dar. Göttliches Wirken ist aber in dem Geschehen nirgendwo fassbar, sowie die Protagonistin auch das Gottvertrauen, das im Promythion als Voraussetzung für Gottes Hilfe benannt wird, an keiner Stelle erkennen lässt: Die Entscheidungen zu den Morden werden von ihr allein ohne jedwede moralische Reflexion oder eine Bitte um göttlichen Beistand getroffen.11 Der überakzentuierte Kontrast von Erzählerstimme und erzählter Geschichte, der in Pro- und Epimythion besonders sinnfällig wird, kann geradezu als Indiz eines unzuverlässigen Erzählens gelesen werden, das gleichzeitig die Konvention exemplarischen Erzählens reflektiert und unterläuft.12

Indem die abschließenden Lehrreden keinen sinnvollen Zusammenhang zu den Narrationen herstellen oder diesen sogar widersprechen, können semantische Kontraste gestaltet werden, die dazu beitragen, den moralischen Impetus des Erzählens per se in Frage zu stellen. Der häufige Kontrast zwischen der Ordo-Behauptung und der ‚Realität‘ der erzählten Geschichte vermittelt deutliche Missklänge hinsichtlich der behaupteten Normativität an sich.13 Die Gestaltung der Pro- und Epiloge in ihrem Verhältnis zur Narration ist ein wichtiger Bereich der Poetik versnovellistischen Erzählens: Zum einen sind semantische Inkongruenzen wesentliches Element der Erzeugung von Komik besonders in den schwankhaften Texten.14 Zum anderen wird in der Verweigerung einer harmonischen Gestaltung von narratio und moralisatio die Relationalität von Geltung besonders augenscheinlich, die zu einer ironisierenden Reflexion des Verfahrens exemplarischer Geltungsbehauptung selbst ausgespielt werden kann. Die A-Kohärenz von moralisatio und narratio führt pointiert die subversive Rekurrenz der Versnovellen auf das exemplarische Erzählprinzip vor Augen, das oftmals an keine konzise normative Geltung gebunden ist.

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