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4.3 Retextualisierung im Sammlungskontext

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Die Sammlungsumgebung hat zweifellos maßgeblichen Einfluss auf die Rezeption der einzelnen inkorporierten Texte, indem sie durch differente Kontexte die eingeschriebenen Motive und diskursiven Bezüge in unterschiedlicher Relevanz und mit spezifischen Konnotationen hervortreten lässt. Dabei ist zu überlegen, ob die Sammlung nicht nur die Rezeption und Funktion, sondern auch schon die individuelle Gestalt des Einzeltextes prägt, ob die konkrete Form kleinepischer Texte in Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Textum­gebung stehen kann.1

Die Versnovellen offerieren verschiedene Möglichkeiten einer Anpassung an den Kontext der Sammlung. Von Bedeutung sind neben variablen Titulaturen, die in Referenz auf die Textumgebung gestaltet werden können, vor allem die Pro- und Epiloge, die nicht nur in kleinepischen Dichtungen besondere Räume einer individuellen Textgestaltung darstellen. Die Vor- und Nachreden sind keine Paratexte im Sinne Genettes, zumal sie optisch in der Regel nicht vom übrigen Text abgesetzt sind. Aber sie können paratextuelle Rahmungen der erzählten Geschichten darstellen, indem sie diese auslegen, kommentieren oder anderweitig deren Lesart beeinflussen.2 Durch das Auslassen, Hinzufügen oder die spezifische Gestaltung dieser für die Rezeption besonders relevanten Bereiche können die Dichtungen in besonderem Maße semantisiert und funktionalisiert werden.3 Aber auch in den erzählten Geschichten selber können signifikante Divergenzen in Erscheinung treten, die sinnveränderndes Potential haben und gezielte Eingriffe in den Text plausibel machen.

Der Zusammenhang zwischen der Poetik der versnovellistischen Texte und ihrer Kontextualisierung in den Sammlungen wurde bislang wenig in den Blick genommen, indem die bisherigen Arbeiten zu kleinepischen Sammlungsverbünden diese nur selten hinsichtlich ihrer Wirkung auf die individuellen Textgestaltungen befragten.4 Die Zusammenhänge zwischen der Poetik der Texte und ihrem Überlieferungszusammenhang zu analysieren,

schafft die Möglichkeit, dem Phänomen der in Art und Umfang sehr unterschiedlichen Varianz auf der Ebene des Manuskripts nachzugehen und nach den texttypischen Faktoren für stabilitas und mouvance zu fragen. So erfährt man etwas über die Regularien sowie Prinzipien der Veränderbarkeit von Texten und über die spezifische historische Sinnsetzung durch kontextualisierende Überlieferungsgemeinschaften in der Rezeptionsgeschichte.5

Dass die Veränderbarkeit von Texten mit ihrer individuellen Überlieferung verbunden sein kann, wurde bereits für andere Bereiche mittelalterlicher Textualität dargelegt.6 So wurde für die Überlieferung von Exempla verschiedentlich darauf verwiesen, dass diese in ihrem individuellen Textbestand mit der Sammlungsumgebung korrelieren und spezifische Gestaltungen von Erzählungen Indiz einer gezielten Textgestaltung sein können, mit der einzelne Text dem Sammlungsprofil angepasst werden.7 Auch variierende Gestaltungen vers­novellistischer Dichtungen können sich aus der Entscheidung herleiten, die Texte an den Zusammenhang der Sammlung anzupassen: „it is an manifestation of the need to consolidate, to readjust und to finetune the discrepancies between independent texts into a form of cyclical conjointure.“8

Die Divergenzen im Textbestand verschiedener Überlieferungsträger einer Dichtung sind nicht nur ein Feld der Textkritik und Edition, sondern werfen die Frage nach den Faktoren auf, die sie auslösen, sowie nach den Bedingungen, die sie ermöglichen. Um den kausalen Zusammenhang zwischen individueller Textgestalt und Sammlungskontext zu beleuchten, muss die philologische Analyse textueller Varianz in eine dezidiert hermeneutische Untersuchung eingebunden werden. Ab wann eine variante Textgestalt dabei als gestalterisches Verfahren, als intentional zu fassen ist, welche Art und welcher Grad von Kohärenz zwischen Texten nötig ist, um von einer intendierten Textverbindung oder einer gezielten Anpassung an ein Sammlungsprofil auszugehen – die notwendigen oder hinreichenden Bedingungen für Intentionalität lassen sich weder fest fixieren noch skalieren. Auch die Frage der Kohärenz innerhalb einzelner Textformationen oder der Sammlung insgesamt kann nicht an ein verbindliches Raster rückgebunden werden, zumal die Sammlungen auf unterschiedlichen Ebenen diskursive Zusammenhänge prägen können.

Dennoch bedeutet die Anbindung an die Sammlung eine Präzisierung der Untersuchung variabler Textbestände. Der Überlieferungsträger stellt einen konkreten und greifbaren Parameter dar, der auf Zusammenhänge mit der individuellen Form von Texten befragt werden kann und wirkt so der Relationalität entgegen, die der Frage nach einer Intentionalität bei der verändernden Textgestaltung inhärent ist. Eine Betrachtung im Überlieferungsverbund ermöglicht es, konkrete Entstehungszusammenhänge von Textvarianten zu ermitteln und deren sinnstiftendes Potential zu erhellen. Durch die Anbindung an den konkreten Referenzrahmen der Sammlung kann die Analyse varianter Textbestände pointiert verfolgt werden, sie ermöglicht Rückschlüsse auf den diskursiven und funktionalen Zusammenhang, in dem diese stehen, und damit auch auf die Rezeption und das Literaturverständnis, die der jeweiligen Gestaltung des Textes zugrunde gelegen haben. Die kleinepischen Sammlungen werden als Dokumente einer überlieferungsgeschichtlichen Narratologie betrachtet, anhand derer die Formgebung des Textes in einer Zusammenschau philologischer und hermeneutischer Perspektiven als Bestandteil eines literarischen Gestaltungsprozesses untersucht werden kann.

Versnovellen im Kontext

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