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SECHS

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David vernahm noch immer nur ein Gemurmel. »Herr Gursky?«

»Äh, ja«, ein Hüsteln, »ist da …«

»Ja.«

»Also, ich … ich rufe an wegen meines Neffen.«

»Wie ist sein Zustand?«

»Er liegt nach wie vor im Koma, aber die Ärzte sind optimistisch, vorsichtig optimistisch zumindest. Sie wollen …« Gurskys weitere Worte wurden von einer Flughafendurchsage übertönt.

Unterdessen bog ein schwarzer Leichenwagen in die Zufahrt zur Gerichtsmedizin. In überraschend hohem Tempo hielt er auf den Innenhof zu.

David zog an der Gauloises, während er die Schatten der Platanen hinter sich ließ.

Gursky sagte: »Entschuldigen Sie, ich stehe in Schönefeld und erwarte die Ankunft meiner Mutter. Sie wird uns für eine Weile mit den Kindern meines Neffen helfen. Das ist alles ziemlich beschwerlich für uns zurzeit, wie Sie sich sicherlich denken, deshalb können wir …« Abermals erscholl eine Durchsage.

David blinzelte die Straße rauf und runter.

Die über den Häuserdächern hängende Sonne erhitzte den Asphalt und die Nerven der Berufspendler. Es stank nach Abgasen und Sprit, aber das war allemal besser als die Fäulnis in der Leichenhalle.

»Also«, Gursky hustete, »wir hatten miteinander gesprochen.«

David schnippte die Kippe weg und eilte durch die stickige Luft auf seinen Wagen zu. Als er auf den Fahrersitz seines Renault Clio fiel, war er wieder schweißgetränkt.

»Sie hatten gesagt, Sie würden sich so bald wie möglich kümmern, aber das ist schon einige Tage her.«

David startete den Motor. Die Klimaanlage blies ihm frischen Wind ins Gesicht. Er aktivierte die Freisprecheinrichtung.

»Inzwischen hat die Polizei sich mit ihren Ermittlungen auf meinen Neffen eingeschossen, und gestern habe ich erfahren, dass die Staatsanwaltschaft wohl Anklage gegen ihn erheben wird.«

David warf einen aufmerksamen Blick in den Seitenspiegel, dann fädelte er sich zwischen einem Taxi und einem Transporter in den zähen Verkehr. Der Fahrer des Transporters hupte erbost.

»Sowohl die Polizei als auch die Staatsanwaltschaft hüllen sich in Schweigen darüber, was sie gegen meinen Neffen in der Hand haben. Aber was immer sie ihm vorwerfen, ich bin überzeugt, dass er es nicht getan hat. Oder was meinen Sie?«

Im Schritttempo kroch David auf die Kreuzung am Hauptbahnhof zu. Die Sonne funkelte in dem gläsernen Koloss. »Das kann ich erst beurteilen …«

»Aber ich bitte Sie«, unterbrach Gursky. »Ich habe das doch erklärt. Ich meine, mein Neffe war kein Musterknabe, das gebe ich zu, und manches Mal hat er sich zu törichten Dingen verleiten lassen, aber er … er wollte damit aufhören, also, sich eine ordentliche Arbeit suchen, ich habe ihm dabei sogar geholfen. Und überhaupt, er ist nicht dumm. Wieso hätte er das Feuer legen sollen, warum hätte er seine Frau, also … Er hat Natalie nicht umgebracht. Was hätte er davon gehabt?«

David bog nach links in den Tiergartentunnel. Endlich kam er zügiger voran.

»Die Lebensversicherung läuft doch auf seine Kinder, und das Geld wird ihnen erst mit Erreichen der Volljährigkeit ausgezahlt. Bis dahin bin ich ihr Vormund. Mein Neffe als, äh … Als vermeintlicher Täter wird er davon ausgeschlossen sein.«

David schaltete die Klimaanlage runter. An der Ausfahrt zum Tiergarten geriet der Verkehr erneut ins Stocken.

»Verstehen Sie? Sie müssen sich beeilen, Sie müssen herausfinden, was passiert ist, also, was wirklich passiert ist. Ansonsten droht ihm ein Prozess, sobald er aus dem Koma erwacht. Im schlimmsten Fall muss er als Mörder ins Gefängnis!« Gursky stieß ein verzweifeltes Husten aus. »Sein Leben wäre ruiniert.«

Das ist es sowieso.

David wechselte die Spur in Richtung Potsdamer Platz. »Ich habe gleich einen Termin mit der Staatsanwaltschaft.«

»Also, Sie meinen …«

»Ich melde mich, sobald ich etwas Konkretes weiß.« David trennte die Verbindung.

Gleich darauf klingelte sein Handy erneut. Wieder war es Richard. »David?«

David folgte der Auffahrt hoch zum Schöneberger Ufer. Die Sonne schien ihm nun direkt ins Gesicht. Er drehte die Klimaanlage hoch. »Was ist?«

»Warum bist du nicht rangegangen, als ich dich angerufen habe?«

»Bin ich doch.«

»Das erste Mal hast du mich weggedrückt.«

»Ich war beschäftigt«

»So früh?«

»Mhm.«

»Wegen Gursky?«

Schweigend ließ David den Wagen in der Lützowstraße ausrollen.

»Hast du Herrn Gursky etwas beruhigen können?«

»Ich bin nicht die Telefonseelsorge.«

»Ich etwa?«, fragte Richard.

Richard Grabner war Anwalt. Seine Kanzlei vertrat vornehmlich gut situierte Kreise, Unternehmer, Politiker, Künstler und Sportler. Wenn diese sich mit Problemen konfrontiert sahen, die Richard mit Paragrafen alleine nicht zu lösen vermochte und von denen die Öffentlichkeit nichts erfahren sollte, kam David ins Spiel.

Recherchen, Observierungen, Verhandlungen, ab und zu ein paar klare Ansagen. Diskret und nach Möglichkeit schnell brachte er die Dinge in Ordnung.

»Für gewöhnlich bringe ich meinen Job zu Ende, bevor ich Einzelheiten weitergebe.« Er lehnte sich im Sitz zurück. »Egal wie oft dein Klient meint, bei mir nachfragen zu müssen.«

»Gursky macht sich nun mal große Sorgen wegen der Ermittlungen gegen seinen Neffen.«

»Sorgt er sich um seinen Neffen oder um seinen eigenen guten Ruf als Geschäftsmann?«

»Seit wann kümmern dich die Beweggründe meiner Klienten?«

Davids Blick glitt über sanierte Altbauten und moderne Wohnblöcke. In den Erdgeschossen befanden sich ein schwäbisches Restaurant, ein Bio-Café und ein Blumenhandel. Die Insignien einer halbwegs abgesicherten Mittelschicht, dementsprechend viele Werktätige trotteten zur U-Bahn-Station, Mütter mit ihren Kindern zur Kita, Hundehalter, vereinzelte Jogger.

Richard fragte: »Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, log David.

»Du klingst nicht danach.«

David konzentrierte sich auf den Altbau gegenüber. Das Goldschmiedeatelier im Parterre hatte noch geschlossen. Er steckte sich eine neue Gauloises an und öffnete das Fenster einen Spalt. Sofort drückte die Hitze herein. Er spürte den klebrigen Schweiß, der an ihm haftete. Plötzlich hatte er auch die Fäulnis wieder in der Nase.

»David?«

»Mhm.«

»Du würdest mir sagen, wenn etwas ist, oder?«

»Ich muss auflegen.« David kappte das Gespräch.

Aus der Haustür drüben stöckelte eine Frau, in ihrem Businesskostüm sportlich und elegant zugleich. In ihrer Armbeuge baumelte eine Aktentasche von Tuscany Leather.

Von Hand gefärbt und pflanzlich gegerbt, wie David seit einer Google-Suche wusste.

Er inhalierte den Zigarettenrauch. Zischend stieß er ihn aus, als könnte er auf diese Weise nicht nur den Gestank der Wasserleiche loswerden, sondern auch die Ungewissheit, die Verzweiflung und das Schuldgefühl, die ihn weiterhin zerfressen würden.

Sie ist es nicht.

Er stieg aus dem Wagen und warf die Kippe in den Rinnstein. »Frau Wertek?«

Sie musterte ihn irritiert.

»Ich möchte mit Ihnen über den Fall Gursky reden.«

»Ich werde mich hüten.« Verärgert stapfte sie weiter.

David ließ sie an sich vorbei. »Das mit Ihrem Mann tut mir leid.«

»Wie bitte?«

»Hodenkrebs. Im fortgeschrittenen Stadium.«

Wertek blieb wie angewurzelt stehen.

David sagte: »Weiß er, wo Sie sich einmal die Woche Ihre Überstunden erarbeiten? Obwohl, wenn ich es richtig beobachtet habe, waren es vergangene Woche sogar zwei Abende, die sie mit Ihrem Chef, dem Staatsanwalt, auf der Junior Suite des Adlon verbracht haben.«

Werteks erschrockener Blick zuckte zu den Fenstern ihrer Wohnung.

David trat auf sie zu. »Reden wir.«

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