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EINS

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Valentina erwachte. Nicht, weil sie ihn hörte, dafür bewegte er sich in der Dunkelheit zu leise, zu besonnen und aufmerksam. Auch im fünften Jahr ihrer Ehe, nach sieben Jahren Beziehung und ganz egal, wie viel Stress ihn plagte.

Sie wurde wach, weil sie spürte, dass er nicht mehr neben ihr lag.

»Georg?«, murmelte sie schlaftrunken, gerade als er sich aus dem Schlafzimmer stehlen wollte.

Der dünne Lichtstreifen erlosch, als er die Tür wieder schloss. »Entschuldige, Walle, ich wollte dich nicht …«

»Wie spät ist es?«

»Kurz vor 6.«

»Warum«, stöhnend streckte sie ihre müden, knackenden Glieder, »warum bist du schon wieder so früh wach?«

Wortlos schlüpfte er zurück zu ihr unter die Decke und schmiegte sich von hinten an sie.

»Die Höfe?«, fragte sie.

Er schnaufte neben ihrem Ohr.

»Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«

»Das machst du doch. Weil du da bist. Jeden Tag.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Dabei kannst du mir nicht helfen.«

»Hey, ich war mal deine rechte Hand.«

»Seitdem hat sich vieles verändert.«

»Ich könnte dir immerhin noch einen Kaffee kochen.«

Leise lachend drückte er sie an sich.

»Nein, wirklich«, sie löste sich aus seiner Umarmung und drehte sich zu ihm um. In dem Halbdunkel des Schlafzimmers konnte sie die Erheiterung in seinem Gesicht nur erahnen. »Das mache ich gerne.«

»Ich weiß, Walle«, er hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. »Aber bis die Kinder raus müssen, ist noch Zeit.«

»Um halb 8 kommt Nane«, das war die Nanny, »dann kann ich …«

»Bist du nicht mit Amy verabredet?«

»Was wollen wir wetten, dass sie das Frühstück verschiebt?«

»Trotzdem«, er küsste sie erneut. »Gönn dir noch etwas Schlaf.«

Sein Vollbart kitzelte auf ihrer Haut. Sein Geruch aus Schlaf, Schweiß und Kenzo stieg ihr in die Nase. Eine widersprüchliche Mischung, dennoch vertraut und deshalb so angenehm.

»Drück mich noch mal«, gähnte sie und schlang ihre Arme um ihn.

Er hielt sie fest, warm und geborgen. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Sie presste sich noch dichter an ihn, weil sie nicht wollte, dass er wieder ging.

Als sie erneut erwachte, war Georg schon weg. Valentina glaubte, noch immer seinen Duft zu riechen. Vielleicht gaukelte ihr schläfriger Verstand ihr das aber auch nur vor. Die Fläche neben ihr war erkaltet, also hatte er sich schon vor einer ganzen Weile in sein Arbeitszimmer geschlichen. Sie sah ihn dort vor sich: über seinen schweren Schreibtisch gebeugt, seine Schultern bis fast an die Ohren gezogen, der Schlafanzug zerknittert, das volle, braune Haar zerzaust, die Stirn zerklüftet, während er über den Charlottenburger Höfen brütete. Das Projekt – Shopping-Mall, Eigentumswohnungen, ein Hotel und eine Altersresidenz – war zweifellos seine bislang größte Herausforderung. Das sich hinziehende Baugenehmigungsverfahren raubte ihm seit Wochen den Schlaf.

Sie wünschte, ihm tatsächlich dabei helfen zu können, doch er hatte recht: Seit sie ihren Job als seine persönliche Assistentin aufgegeben hatte, ein Vierteljahr vor ihrer Hochzeit, ein halbes Jahr vor Mias Geburt, hatte sie den Überblick verloren.

Außerdem besaß sie inzwischen ihre eigenen Verpflichtungen. Heute zum Beispiel, im Anschluss an das Frühstück mit ihrer Freundin Amy, ein Besuch in der Berthold-Schule, in der sie sich seit einer Weile für das Deutsche Rote Kreuz als Lese-Patin engagierte. Und um 15 Uhr … Oder eine Stunde später? Nein, ganz sicher, um 15 Uhr dann die Besprechung mit Rebecca, Margret und den anderen Freundinnen vom Orga-Team für das Charity-Event zugunsten der Flüchtlingshilfe, das in wenigen Tagen stattfinden sollte. Hinterher blieb noch genügend Zeit für ihre Kinder und ein sommerliches Vergnügen im Pool.

Sie vergrub sich tiefer in den Jasminduft ihrer Bettwäsche, die die Haushälterin gestern Morgen frisch bezogen hatte. Doch in Gedanken bereits bei ihren Terminen konnte sie nicht wieder einschlafen.

Sie tastete nach ihrem Smartphone auf dem Nachttisch und blinzelte in das helle Displaylicht.

6:34 Uhr.

Nicht einmal mehr eine halbe Stunde, bis der Wecker ging und mit Mia und Lennard das Ringen ums Waschen, Anziehen und ihr Lieblingsfrühstück, Waffeln mit Apfelmus, entbrannte.

Zwei WhatsApp waren eingegangen, die erste kurz nach Mitternacht.

Wahnsinn, hatte Rebecca geschrieben, anderthalb Stunden, nachdem sie den Abend bei einem gewohnt auserlesenen Fünf-Gänge-Menü im Reinstoff verbracht hatten, was du auf die Beine gestellt hast. Scorpions, Silly, Ben Becker. Deshalb solltest du die Presse übernehmen, ich bin mir sicher, die werden an deinen Lippen hängen.

Die zweite Nachricht war erst eine halbe Stunde alt.

Wird wohl etwas später, dicker Schmatz, A

Die Wette hätte ich gewonnen, schmunzelte Valentina. Sie wollte eine Antwort an Amy tippen, da vernahm sie aus einem der Kinderzimmer ein Geräusch.

Der Kampf ums Aufstehen begann heute also mal wieder früher.

Sie streifte sich ihren Morgenmantel über, ignorierte ihre wunden Füße, eine Erinnerung an ihre neuen Peeptoes, die sie gestern Abend eingelaufen hatte.

Im Flur fielen die ersten Sonnenstrahlen durch das Oberlicht, brachen sich in den Swarovski-Kristallen des Kronleuchters und sprenkelten die Empore mit regenbogenfarbenen Tupfern.

Die Wände in Lennards Zimmer waren mit einem Dutzend selbstgemalter Bilder behangen. Sie zeigten knallbunte Strichfiguren, vornehmlich seine Schwester, seine Mutter, seinen Vater – und Monk, seinen Lieblingsteddy. Auch jetzt, während er tief und fest schlummerte, hielt er das quietschgelbe Zotteltier im Arm. Trotz seiner erst zweieinhalb Jahre war Lennard ein ausgemachter Langschläfer.

Ganz anders seine fünfjährige Schwester. Mia war von Geburt an ein aufgewecktes Kind gewesen. Wenig überraschend hockte sie bereits im Schneidersitz auf ihrem Bett. Neben sich auf ihrer Decke, die mit einem großflächigen Foto ihres Ponys Erwin bedruckt war, hatte sie Bücher gestapelt. Einige waren zu Boden gepoltert.

»Mama, guck mal«, Mia schaute von einem Bilderbuch auf, »die Ponys.«

»Ja, Liebes, die sind schön, aber …«

»Wir gehen doch heute mit Nane in den Zoo.«

»Und deswegen bist du schon wach?«

»Da gibt es auch Ponys. Im Streichelzoo.« Seit Nane den Kindern einen Besuch im Tierpark versprochen hatte, gab es für Mia kein anderes Thema mehr.

Valentina setzte sich zu ihr aufs Bett. »Da gibt es noch viel mehr Tiere als nur Ponys.«

»Auch Pferde?«

»Flusspferde zum Beispiel.«

»Oh ja!« Mias Nase kräuselte sich vor Freude. Dann wurde sie wieder ernst. »Darf ich noch ein bisschen in dem Buch gucken?«

»Ein paar Minuten vielleicht, aber dann stehst du bitte auf und …« Valentina verstummte, weil ihre Tochter bereits wieder in ihr Pferdebuch versunken war.

Lächelnd strich sie ihr eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Nicht zum ersten Mal stellte sie fest, wie sehr Mia ihrem Vater glich. Nicht nur was das frühe Aufstehen betraf, auch in ihrer konzentrierten Haltung, ihrem Grübchen am Kinn, ihren blauen Augen, mit ihren zerwühlten, braunen Haaren, selbst in der Art, wie sie ihre Stirn beim Lesen runzelte.

Der Anblick ihrer Tochter erfüllte Valentina mit Glück, und zweifellos war dieses Gefühl ein Grund, einer von vielen, warum sie Georg immer noch liebte. Weshalb sie ihn vermisste, sobald er nicht in ihrer Nähe war, sogar wenn sie schlief.

Einmal hatte sie Amy davon erzählt. Ihre Freundin, tagsüber viel beschäftigte Inhaberin einer Antique Jewellery an der Friedrichstraße, hatte sie ungläubig angeguckt. »Also ich«, hatte sie dann verkündet, »wäre ja verdammt froh, wenn Josh mal nicht neben mir schnarchen würde. Dann könnte ich endlich einmal durchschlafen.«

Zwei Monate später hatte sie sich von ihm getrennt, nicht nur des Schnarchens wegen, so viel war sicher, auch wenn sie ansonsten nicht viele Worte darüber verlieren mochte. Seither jedoch ließen ihre wechselnden Männerbekanntschaften keinen Zweifel daran, dass eine ungestörte Nachtruhe nicht mehr allzu weit oben auf ihrer Prioritätenliste stand. Was freilich – dessen war sich Valentina bewusst, besser noch als ihre Freundin vermutlich – auch an deren Bedürfnis nach Nähe und der Angst vor dem Alleinsein lag. Der frühe, tragische Tod ihres Vaters hatte deutliche Spuren hinterlassen.

Valentina suchte das Badezimmer auf.

Während sie auf der Toilette saß, schrieb sie eine Antwort an ihre Freundin. Süße, kein Problem. Um 10? Noch dickeren Schmatz, V

Sie band ihre wilden, blonden Strähnen zu einem Pferdeschwanz zusammen, wusch sich das Gesicht und trug ihre Morgencreme auf.

Auf dem Badregal hatte Georg sein Tablettenröhrchen vergessen. Ein blutdrucksenkendes Medikament, das ihm ein befreundeter Apotheker nach eigener Rezeptur herstellte.

Sie räumte das Döschen in den Spiegelschrank, dann nahm sie die linke der beidseitig von der Empore hinablaufenden Holztreppen ins Erdgeschoss.

Im Foyer standen die Doppelschiebetüren zum Wohnzimmer offen. Durch die Glasfront, die über die gesamte Hausbreite reichte, fiel ein breiter Streifen Sonnenlicht und ließ die braune Ledercouchgarnitur strahlen. In der benachbarten offenen Küche funkelte das Chrom. Aus dem Garten hatte der Gärtner ein atemberaubendes Paradies aus chinesischem Blauregen, brasilianischer Guave und Indigosträuchern aus dem Himalaya erschaffen. Sogar einschlägige Fachmagazine hatten darüber berichtet. Ein Blumentraum im Grunewald, hatte eine der Schlagzeilen gelautet.

Ganz zu Beginn, in den ersten Tagen, nachdem Georg das Haus erworben hatte, hatte sich Valentina jeden Morgen nach dem Aufstehen in den Arm kneifen müssen. Auf diese Weise hatte sie sich davon überzeugt, dass das unbeschwerte Leben, das sie führte, und die sorgenfreie Zukunft ihrer Kinder das nicht waren – ein Traum.

Mit einem Lächeln spielte sie an ihrem Ehering, der mit einem schönen, altmodischen, herzförmigen Diamanten verziert war.

6.59 Uhr.

»Georg?« Sie öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer.

Ein strenger Geruch schlug ihr entgegen. Der Gestank von Möbelpolitur, flüssigem Metall und Exkrementen.

Das Handy entglitt ihrer Hand.

Auf den Fliesen geronn eine Pfütze aus Blut. Es tropfte vom Schreibtischstuhl, auf dem Georg saß.

Valentina wollte schreien und nie wieder aufhören.

»Mama?«, hörte sie Mia auf der Treppe.

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