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ZWEI

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Luka bemerkte das kleine Mädchen und erschrak.

Was zur Hölle …?!

Verwirrt blinzelte er den Schleier weg, der seinen Blick seit Stunden trübte. Das Mädchen, das dort im Durchgang zu den Toiletten stand, glich seiner Frau bis aufs Haar; das Grübchen am Kinn, der Leberfleck knapp über der Oberlippe, die schmale, geschwungene Nase, die dunkelbraunen Augen, sogar der vorwurfsvolle Blick. Nur dass es eben noch ein kleines Mädchen war, knapp sechs oder sieben Jahre alt, also nicht Natalie, seine Frau. Also Franzi, seine Tochter? Nein, das war absurd, völlig absurd.

Er blinzelte noch einmal, und das Mädchen verschwamm wieder im trüben Nebel. Gleichzeitig begann sich die Welt zu drehen, immer schneller, wie ein Karussell, dessen Bremsen versagten. Luka verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten.

Hände packten ihn und hielten ihn fest. »Hoppala.«

Es dauerte, bis Lukas Welt sich entschleunigte und wieder zum Stillstand kam. Vor ihm ragte der Barkeeper auf, ein fülliger Kerl mit lockigem Haar und ebenso gelocktem Vollbart.

»Feierabend«, sagte er und schnappte die leeren Gläser vom Tisch.

Aber meine Tochter.

Der Barkeeper runzelte die Stirn. »Was?«

»Ich …«, Luka stieß auf und bekam einen bitteren Geschmack in den Mund, »… ich hab nichts gesagt.«

»Klar, irgendwas über deine Tochter.«

»Echt?«

»Was ist mit ihr?«

»Da«, noch ehe Luka begriff, was er tat, zeigte er mit dem Finger, »hinter dir!«

»Was ist da?« Der Barkeeper drehte sich um.

Luka neigte sich zur Seite, um an ihm vorbeizuschauen. Wieder fiel er fast zu Boden.

Wieder war der Barkeeper zur Stelle. »Definitiv Feierabend.«

Luka schielte an ihm vorbei.

Am Tresen hing ein Typ mit wilder, schlohweißer Mähne, einem zerknitterten Hemd und abgelatschten Slippern, vielleicht ein Künstler, wahrscheinlich aber einfach nur ein wilder, zerknitterter, abgelatschter Typ.

Drei Tische weiter gähnten sich zwei blasse Gestalten über ihre Drinks hinweg an. Ansonsten war das Sideways leer. Selbst die Rockmusik, die die ganze Nacht in seinen Ohren gedröhnt hatte, war verklungen.

Wie lange eigentlich schon?

Aber das spielte nun eigentlich wirklich keine Rolle. Seine Tochter war verschwunden?

Stattdessen tauchte Alf, Lukas’ Kumpel, im Durchgang zu den Toiletten auf. Er rülpste laut.

»Mahlzeit!«, murmelte der Typ am Tresen und kippte den letzten Schwapp Bier mit einem kühnen Schwung in sich hinein, der ihn beinahe rücklings vom Hocker beförderte.

Kichernd sank Alf auf einen Stuhl. »Was’n los?«

»Nix.«

»Siehst’ aber nich’ so aus.«

»Wirklich nix.«

»Scheiße, Mann, machste etwa schlapp?«

»Nee, ich hab’ nur …« Lukas Blick irrte durch die stille Kneipe, als wollte er sich noch einmal vergewissern.

Ich hab’ nur meine Tochter gesehen.

Nein, das hatte er nicht. Das war völliger Blödsinn. Plötzlich musste er lachen.

»Ey!«, empörte sich Alf. »Lachste über mich?«

»Quatsch!«

»Worüber’n dann?«

»Nee«, gluckste Luka. Er schüttelte den Kopf, als könnte er seine eigene Dummheit nicht fassen. Seine Tochter Franzi war noch ein Baby, geboren vor einem Dreivierteljahr, und trank Milch statt Alkohol. In Kneipen wie dem Sideways pflegte sie noch nicht zu verkehren und erst recht nicht morgens um –

Sein Lachen erstarb. Er schaute raus zum Fenster, und prompt hatte er ein schlechtes Gewissen. Die Sonne war aufgegangen, das Kreuzberger Leben auf der Wiener Straße längst erwacht. »Wie spät ist es?«

Alf schnaubte. »Wen juckt’s!«

»Kurz nach 7«, rief der Barkeeper. »Feierabend.«

»Ey, Mann«, schimpfte Alf. »Is’ jetz’ nich’ dein Ernst?«

»Doch.«

»Ach komm, noch ’ne letzte Runde!«

»Nope.«

»Das is’ doch … Scheiße, Luka, sag du auch was!«

»Ich muss los«, sagte Luka und stand auf. Augenblicklich begann sich seine Welt wieder zu drehen. Er schwankte, fast wäre er diesmal tatsächlich gestürzt.

Gerade noch rechtzeitig bekam er die Tischkante zu fassen und hielt sich mühsam aufrecht. Als das Karussell endlich stoppte, starrte er in das entrüstete Gesicht seines Kumpels.

»Willste mich verarschen?«, fragte Alf.

»Nee.«

»Und warum willste dann abhauen?«

»Ich muss los.«

»Yo, hab’s verstanden, aber, Mann, ich dacht’, wir woll’n feiern.«

»Haben wir doch.«

»Die Nacht is’ noch gar nich’ vorüber.«

»Es ist 7.«

»Früher hat dich das auch nich’ gestört.«

Früher. Luka stieß erneut auf.

Früher hatte er noch keine Kinder gehabt und auch keine Halluzinationen. Andererseits, nach drei Joints, vier Gläsern einer Wodka-Eistee-Mischung, die der Barkeeper seinen ganz persönlichen Sideway nannte, außerdem sechs oder sieben Mixery, durfte man sich über Hallus auch nicht wundern. Wobei Trugbilder einer Tochter, die ihn wütend wie ihre Mutter anschaute, noch zu den harmloseren gehörten.

»Schluss jetzt!«, rief der Barkeeper.

Die beiden blassen Nachteulen vom Nachbartisch hatten die Kneipe bereits verlassen. Auch der Typ vom Tresen schlurfte zur Straße hinaus.

Luka kramte in seiner Hosentasche. »Wie viel kriegst du?«

»68«, ließ der Barkeeper wissen.

»Für uns beide?«

»Nope, das wären … 144.«

»Äh«, machte Alf. »Luka? Ich bin grad was knapp und …«

»Ist schon okay.« Luka zählte sein Geld. Insgesamt 150. Er legte alles auf den Tisch. »Stimmt so.«

»Yo, Mann«, Alf schlug ihm auf die Schulter. »Bist ’n echter Kumpel, weißte?«

»Klar.«

Gemeinsam taumelten sie in den Kreuzberger Morgen. Sie kniffen die Augen gegen das helle Sonnenlicht zusammen, das einen weiteren heißen Sommertag versprach. Noch fehlte von den Touristen jede Spur. Trotzdem drückten sich die ersten Dealer am Görlitzer Park herum.

»Un’ jetz?«, wollte Alf wissen. »Wohin geh’n wir jetz’?«

»Nach Hause, sagte ich doch.«

»Das meinste echt ernst.«

»Bin eh schon zu spät.«

»Yo, dann is’ jetz’ auch egal.«

»Nee, ich sollt’s nicht übertreiben. Nati ist sowieso sauer.«

»Hä? Immer noch?« Alf rülpste erneut. »Nur weil’se dich erwischt hab’n? Is’ doch nix passiert, du hast Bewährung gekriegt, andere hab’n nich’ so’n Glück. Haste ihr das mal gesagt?«

»Das soll ich ihr sagen?«

»Yo, Mann.«

Kopfschüttelnd wandte sich Luka zur U-Bahn-Station.

Dass er so glimpflich davongekommen war, hatte rein gar nichts mit Glück zu tun, sondern mit seinem Onkel aus Köln, dem er einen verdammt guten Anwalt verdankte. Und das wusste, soviel war sicher, natürlich auch Nati.

»Weißte was?« Alf schloss zu ihm auf. »Ich glaub’, du stehst unter ihr’m Pantoffel.«

»Tu ich nicht.«

»Tuste wohl!«

»Quatsch!«

»Is’ es nich’!«

Luka ließ seinen Kumpel zetern. Ihm wurde bewusst, dass er gerade buchstäblich sein gesamtes Geld auf den Kneipentisch gelegt hatte. Nicht einmal einen Fünfer für die Bahn hatte er zurückbehalten. Und Schwarzfahren kam aus guten Gründen fürs Erste nicht infrage.

Er drehte sich um und stolperte über einen Pflasterstein, den irgendein Idiot aus dem Bürgersteig gerissen hatte. Schwankend navigierte er sich in die nächste Seitenstraße nach Neukölln.

Du stehst voll unter’m Pantoffel.

Okay, möglicherweise hatte Alf nicht ganz unrecht. Weswegen das vorhin vielleicht auch keine Halluzination gewesen war, sondern nur so etwas wie … wie … wie Lukas schlechtes Gewissen. Dafür hatte seine Frau ja hinlänglich gesorgt.

Was sollte der Mist? Hast du nicht an die Kinder gedacht?

Allerdings lag sie damit auch nicht ganz falsch. Er hatte nun mal Mist gebaut, und Alf, dieser … Wie hatte Nati ihn noch gleich genannt? Wie auch immer, sie gab ihm die Schuld daran.

Ein leichter Job, hatte Alf gesagt. Schnell verdientes Geld.

Nur deshalb hatte sich Luka darauf eingelassen. Schnell verdientes Geld. Immerhin in diesem Punkt lag seine Frau falsch, weil er dabei sehr wohl an –

»Haste gehört?«, fragte Alf.

Luka schreckte aus seinen Gedanken auf. »Was?«

»Da drüben in dem Wagen, is’ das nich …? Yo, das is’ Werner.«

Der Wagen bremste am Straßenrand.

»Scheiße!« Schlagartig war Luka nüchtern. »Was soll ich … Alf?«

Alf war verschwunden.

Das Beifahrerfenster surrte herab. »Hey«, rief Werner, »steig ein.«

»Ich … ich …«, stammelte Luka. »Ich muss nach Hause.«

»Ich fahr dich heim.«

»Es ist nicht weit, ich …«

»Halt den Mund und steig ein!«

Brandstifter

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