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Der »Selber-denken«-Ansatz
ОглавлениеImmanuel Kant
Alle Unterweisung der Jugend hat dieses Beschwerliche an sich, dass man genötigt ist, mit der Einsicht den Jahren vorzueilen, und, ohne die Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse erteilen soll, die nach der natürlichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten Vernunft könnten begriffen werden. Daher entspringen die ewige Vorurtheile der Schulen, welche hartnäckichter und öfters abgeschmackter sind als die gemeinen, und die frühkluge Geschwätzigkeit junger Denker, die blinder ist, als irgend ein anderer Eigendünkel und unheilbarer als die Unwissenheit. Gleichwohl ist diese Beschwerlichkeit nicht gänzlich zu vermeiden, weil in dem Zeitalter einer sehr ausgeschmückten bürgerlichen Verfassung die feinere Einsichten zu den Mitteln des Fortkommens gehören, und Bedürfnisse werden, die ihrer Natur nach eigentlich nur zur Zierde des Lebens und gleichsam zum Entbehrlich-Schönen desselben gezählt werden sollten. Indessen ist es möglich, den öffentlichen Unterricht auch in diesem Stücke nach der Natur mehr zu bequemen, wo nicht mit ihr gänzlich einstimmig zu machen. Denn da der natürliche Fortschritt der menschlichen Erkenntnis dieser ist, dass sich zuerst der Verstand ausbildet, indem er durch Erfahrung zu anschauenden Urtheilen und durch diese zu Begriffen gelangt, dass darauf diese Begriffe in Verhältnis mit ihren Gründen und Folgen durch Vernunft und endlich in einem wohlgeordneten Ganzen vermittelst der Wissenschaft erkannt werden, so wird die Unterweisung eben denselben Weg zu nehmen haben. Von einem Lehrer wird also erwartet, dass er an seinem Zuhörer erstlich den verständigen, dann den vernünftigen Mann, und endlich den Gelehrten bilde. Ein solches Verfahren hat den Vortheil, dass, wenn der Lehrling gleich niemals zu der letzten Stufe gelangen sollte, wie es gemeiniglich geschieht, er dennoch durch die Unterweisung gewonnen hat, und, wo nicht vor die Schule, doch vor das Leben geübter und klüger geworden.
Wenn man diese Methode umkehrt, so erschnappet der Schüler eine Art von Vernunft, ehe noch der Verstand an ihm ausgebildet wurde, und trägt erborgte Wissenschaft, die an ihm gleichsam nur geklebt und nicht gewachsen ist, wobei seine Gemütsfähigkeit noch so unfruchtbar wie jemals, aber zugleich durch den Wahn von Weisheit viel verderbter geworden ist. Dieses ist die Ursache, weswegen man nicht selten Gelehrte (eigentlich Studirte) antrifft, die wenig Verstand zeigen, und warum die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt schicken als irgendein anderer Stand des gemeinen Wesens.
Die Regel des Verhaltens also ist diese: zuvörderst den Verstand zu zeitigen und seinen Wachstum zu beschleunigen, indem man ihn in Erfahrungsurtheilen übt und auf dasjenige achtsam macht, was ihm die verglichene Empfindungen seiner Sinne lehren können. Von diesen Urtheilen oder Begriffen soll er zu den höheren und entlegnern keinen kühnen Schwung unternehmen, sondern dahin durch den natürlichen und gebähnten Fußsteig der niedrigern Begriffe gelangen, die ihn allgemach weiter führen; alles aber derjenigen Verstandesfähigkeit gemäß, welche die vorhergehende Übung in ihm notwendig hat hervorbringen müssen, und nicht nach derjenigen, die der Lehrer an sich selbst wahrnimmt, oder wahrzunehmen glaubt, und die er auch bei seinem Zuhörer fälschlich voraussetzt. Kurz, er soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, dass er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll.
Eine solche Lehrart erfordert die der Weltweisheit eigene Natur. Da diese aber eigentlich nur eine Beschäftigung für das Mannesalter ist, so ist kein Wunder, dass sich Schwierigkeiten hervortun, wenn man sie der ungeübteren Jugendfähigkeit bequemen will. Der den Schulunterweisungen entlassene Jüngling war gewohnt zu lernen. Nunmehro denkt er, er werde Philosophie lernen, welches aber unmöglich ist, denn er soll jetzt philosophieren lernen. Ich will mich deutlicher erklären. Alle Wissenschaften, die man im eigentlichen Verstande lernen kann, lassen sich auf zwei Gattungen bringen: die historische und mathematische. Zu den erstern gehören, außer der eigentlichen Geschichte, auch die Naturbeschreibung, Sprachkunde, das positive Recht etc. etc. Da nun in allem, was historisch ist, eigene Erfahrung oder fremder Zeugnis, in dem aber, was mathematisch ist, die Augenscheinlichkeit der Begriffe und die Unfehlbarkeit der Demonstration etwas ausmachen, was in der Tat gegeben und mithin vorrätig und gleichsam nur aufzunehmen ist: so ist es in beiden möglich zu lernen, d. i. entweder in das Gedächtnis, oder den Verstand dasjenige einzudrücken, was als eine schon fertige Disziplin uns vorgelegt werden kann. Um also auch Philosophie zu lernen, müsste allererst eine wirklich vorhanden sein. Man müsste ein Buch vorzeigen und sagen können: sehet, hier ist Weisheit und zuverlässige Einsicht; lernet es verstehen und fassen, bauet künftighin darauf, so seid ihr Philosophen: bis man mir nun ein solches Buch der Weltweisheit zeigen wird, worauf ich mich berufen kann, wie etwa auf den Polyb, um einen Umstand der Geschichte, oder auf den Euklides, um einen Satz der Größenlehre zu erläutern: so erlaube man mir zu sagen: dass man des Zutrauens des gemeinen Wesens missbrauche, wenn man, anstatt die Verstandesfähigkeit der anvertrauten Jugend zu erweitern, und sie zur künftig reifern eigenen Einsicht auszubilden, sie mit einer, dem Vorgeben nach, schon fertigen Weltweisheit hintergeht, die ihnen zu gute von andern ausgedacht wäre, woraus ein Blendwerk von Wissenschaft entspringt, das nur an einem gewissen Orte und unter gewissen Leuten für ächte Münze gilt, allerwärts sonst aber verrufen ist. Die eigenthümliche Methode des Unterrichts in der Weltweisheit ist zetetisch, wie sie einige Alte nannten (von ζητειν), d. i. forschend und wird nur bei schon geübterer Vernunft in verschiedenen Stücken dogmatisch, d. i. entschieden. Auch soll der philosophische Verfasser, den man etwa bei der Unterweisung zum Grunde legt, nicht wie das Urbild des Urtheils, sondern nur als eine Veranlassung, selbst über ihn, ja so gar wider ihn zu urtheilen, angesehen werden, und die Methode, selbst nachzudenken und zu schließen, ist es, deren Fertigkeit der Lehrling eigentlich sucht, die ihm auch nur allein nützlich sein kann, und wovon die etwa zugleich erworbene entschiedene Einsichten als zufällige Folgen angesehen werden müssen, zu deren reichem Überflusse er nur die fruchtbare Wurzel in sich zu pflanzen hat.
Vergleicht man hiermit das davon so sehr abweichende gemeine Verfahren, so lässt sich verschiedenes begreifen, was sonst befremdlich in die Augen fällt. Als z. E. warum es keine Art Gelehrsamkeit vom Handwerke giebt, darin so viele Meister angetroffen werden, als in der Philosophie, und, da viele von denen, welche Geschichte, Rechtsgelahrtheit, Mathematik u. d. m. gelernt haben, sich selbst bescheiden, dass sie gleichwohl noch nicht gnug gelernt hatten, um solche wiederum zu lehren: warum andererseits selten einer ist, der sich nicht in allem Ernste einbilden sollte, dass außer seiner übrigen Beschäftigung es ihm ganz möglich wäre etwa Logik, Moral u.d.g. vorzutragen, wenn er sich mit solchen Kleinigkeiten bemengen wollte. Die Ursache ist, weil in jenen Wissenschaften ein gemeinschaftlicher Maßstab da ist, in dieser aber ein jeder seinen eigenen hat. Imgleichen wird man deutlich einsehen, dass es der Philosophie sehr unnatürlich sei, eine Brotkunst zu sein, indem es ihrer wesentlichen Beschaffenheit widerstreitet, sich dem Wahne der Nachfrage und dem Gesetze der Mode zu bequemen, und dass nur die Notdurft, deren Gewalt noch über die Philosophie ist, sie nötigen kann, sich in die Form des gemeinen Beifalls zu schmiegen.