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Experimentelle Philosophie

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Seit einigen Jahren beginnt sich eine philosophische Strömung mit je eigenen Methoden zu etablieren, die sich Experimentelle Philosophie oder Philosophische Psychologie nennt. Darin werden Inhalte und Methoden der Sozialwissenschaften und Psychologie einbezogen, um bestimmte philosophische Probleme zu lösen. Experimente sollen dazu dienen, philosophische Intuitionen besser zu verstehen.

Im Anschluss daran stelle ich die Frage, ob sich auch diese Art zu philosophieren in den Philosophieunterricht transformieren lässt. Die Grundidee besteht darin, die faktisch vorhandenen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der experimentellen Philosophie zu erfassen. Auf dieser Basis ist es dann leichter, diese bereits theoretisch analysierten Vorstellungen mit einer Philosophie in Verbindung zu bringen, die ebenfalls empirisches Material verwendet.

Exemplarisch demonstriert wird dies in dem Buch von Kwame Anthony Appiah »Ethische Experimente. Übungen zum guten Leben«.17 Gegenstand dieser empirischen Untersuchungen sind Intuitionen, d. h. spontane Urteile oder auch Vor-Urteile.18 Aus der Fülle des vorliegenden Materials wähle ich das Beispiel eines ethischen Experiments aus, das von Joshua Knobe durchgeführt worden ist.19 Er entwarf zwei Szenarien:

Im ersten Szenario wird dem Geschäftsführer eines Unternehmens ein neues Programm vorgelegt, das sowohl den Gewinn erhöhen als auch der Umwelt helfen wird. »Die Umwelt ist mir völlig gleichgültig«, erwidert der Geschäftsführer. »Ich möchte nur so viel Gewinn wie möglich machen. Also starten wir das neue Programm.« Das Programm wird realisiert und die Umwelt hat ihren Nutzen davon. Das zweite Szenario ist fast dasselbe, nur wird das Programm diesmal der Umwelt schaden. Wieder zeigt sich der Geschäftsführer der Umwelt gegenüber gleichgültig. Das Programm wird eingeführt, um den Gewinn zu steigern – mit den erwarteten Umweltschäden.

In einem kontrollierten Experiment präsentierte Knobe diese beiden Szenarien verschiedenen Gruppen von Versuchspersonen. Wenn das Programm auch der Umwelt half, waren nur 23 Prozent der Probanden der Ansicht, der Geschäftsführer habe »der Umwelt mit Absicht geholfen«. Aber wenn das Programm der Umwelt schadete, äußerten 82 Prozent die Ansicht, der Geschäftsführer habe »der Umwelt mit Absicht geschadet«.

Aus diesem Experiment zog Knobe den folgenden Schluss: Bei der Beurteilung intentionaler Handlungen orientieren sich die getesteten Intuitionen an den »psychologischen Eigenschaften, die für positive oder negative Urteile besondere Bedeutung besitzen«. Aus diesem Grund werden andere Merkmale relevant, »je nachdem, ob die Handlung selbst gut oder böse ist« oder ob die gerade nicht intendierten Handlungsfolgen gut oder schlecht sind. Man kann sagen, die moralische Beurteilung der Handlung überformt das Urteil über die Intention. Die Probanden befürchten offenbar, dass sie eine schlechte Handlung moralisch billigen, wenn sie ihr keine Absicht unterstellen. Folglich sehen sie sich genötigt, ihr negatives Werturteil mit der Unterstellung einer entsprechenden Intention zum Ausdruck zu bringen.

Aus einem derartigen Experiment ziehe ich nun die beiden folgenden didaktischen Konsequenzen:

Erstens: Vom Standpunkt einer intentionalistischen Ethik sind die soeben referierten Intuitionen einfach »falsch«. Sie vermischen in unzulässiger Weise Intention und Folge einer Handlung. Das heißt, Intuitionen können trügen. Man kann das mit einer optischen Täuschung vergleichen: So wie sich das Auge beim Anblick von Linien täuschen kann, so werden die Menschen beim Hören oder Lesen moralischer Fälle getäuscht.

Dazu gehört zweitens: Diese Art Täuschung wird nicht nur festgestellt und theoretisch begründet. Noch wichtiger ist es, dass zusätzlich erklärt werden kann, wie es zu diesen Irrtümern gekommen ist, also aus welchen psychologischen Gründen sich die Probanden getäuscht haben. Das erinnert an die philosophische Tradition der Ideologiekritik, wie sie seit Bacons Idolenlehre während der gesamten Aufklärung bis Marx, Freud und der Frankfurter Schule praktiziert worden ist. Demnach bestreitet man nicht nur den Wahrheitsanspruch des Kritisierten, sondern versucht auch noch zu erklären, unter welchen subjektiven und objektiven Bedingungen der Erkenntnisgenese die Wahrheit (vielleicht sogar »notwendigerweise«) verfehlt wird. In unserem Fall der Experimentellen Philosophie kann ich derartige Gründe nur andeuten. Die speziell psychologischen Gründe sind teils kognitiver, teils emotionaler Art. Im vorliegenden Fall besteht offenbar das Bedürfnis, die negative Bewertung mitzuteilen. Um derartige Ergebnisse richtig einzuschätzen, ist nicht zuletzt auch auf die Art und Weise der Darstellung eines Szenarios zu achten. Hier spielt etwa die Reihenfolge eine Rolle, ob etwa zuerst die »gute« oder die »böse« Variante präsentiert wird; wie die fiktive Geschichte sprachlich vermittelt wird, wie die Ereignisse miteinander verknüpft werden usw. Weil also die Art der Erzählung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat, sehe ich mich in meinem Verweis auf den narrativen Aspekt bestätigt.

Aus den genannten Gründen halte ich die Experimentelle Philosophie für hilfreich, um die Urteile von Schülerinnen und Schülern zu erfassen. Ich sehe darin ein methodisches Instrument bei der empirischen Unterrichtsforschung. Es ist nützlich, weil es mit fachspezifischen Mitteln das empirische Material nicht nur zu beschreiben vermag, sondern in der Lage ist, es zu analysieren und zu erklären, d. h. die psychologischen und kulturellen Motive zu erkunden. Diese Leistung scheint mir unbestreitbar zu sein.

Doch welche Konsequenzen hat die Anwendung der Experimentellen Philosophie für die Fächer Philosophie und Ethik? Ich sehe drei idealtypische Möglichkeiten.

Die erste radikale Reaktion auf die Experimentelle Philosophie könnte darin bestehen, Philosophie und Ethik zu verabschieden nach dem Motto: Die psychologischen Befunde demonstrieren, dass die Menschen »in Wirklichkeit« ganz anders urteilen, als uns diese Theorien glauben machen wollen. In der Tat lässt sich eine derartige Polemik in manchen Publikationen herauslesen. Deshalb ist die Experimentelle Philosophie alles andere als unstrittig. Natürlich gibt es Philosophen, die dagegen Sturm laufen. Aber nach meinem Eindruck ist diese Abwehr übertrieben, weil das Verhältnis zwischen traditioneller und experimenteller Philosophie sehr viel differenzierter ist, wie der von mir erwähnte Autor Appiah zeigt. Einerseits hält er die Theorie der Tugend bei Aristoteles für »widerlegt«, weil sich das Konstrukt eines einheitlichen und stabilen »Charakters« empirisch nicht nachweisen lasse; an dieser Stelle schwingt durchaus Kritik an der alteuropäischen Philosophie mit. Doch andererseits hält er an der aristotelischen Tugendlehre fest, indem er sie in kritischer Absicht reformuliert und damit die Ethik insgesamt rehabilitiert20. Es gibt für uns daher keinen Grund, sich von der Experimentellen Philosophie einschüchtern zu lassen.

Die zweite Reaktion besteht darin, die traditionelle Philosophie und Ethik unverändert zu Grunde zu legen. Im Unterricht kann man dann trotzdem die geschilderten Experimente durchführen. Wenn man diese beschreibend und erklärend ausgewertet hat, stellt sich die Aufgabe, die nachgewiesen »falschen« Intuitionen zu korrigieren. Im genannten Fall folgt dann eben eine ethische Unterweisung über den wesentlichen Unterschied zwischen Intention und Folge einer Handlung. Und danach könnte man dann wieder messen, ob ein solcher Unterricht gefruchtet hat.

Aber es gibt noch einen dritten Weg, der darin besteht, Philosophie und Ethik nicht einfach als Gegenbastion zur Psychologie in Anschlag zu bringen. Vielmehr besteht auch die Möglichkeit, die philosophische Ethik den empirischen Befunden anzupassen oder sie mit diesen zu vermitteln.

In unserem Fall könnte das so aussehen, dass man die Position des Intentionalismus weniger dogmatisch vertritt und damit die spontanen Intuitionen etwas gutwilliger auswertet. Bringt man nämlich die Ethik der Verantwortung ins Spiel, wird sofort klar, dass Personen auch für nicht intendierte Folgen ihres Handelns verantwortlich gemacht werden können und sollen. Gerade in der ökologischen Ethik ist das ein aktuelles und großes Thema. Unter dieser Voraussetzung ist es gar nicht mehr ganz so »falsch«, dem umweltschädlichen Projekt eine Absicht zu unterstellen – nicht etwa, weil diese Absicht wirklich existiert hat (darin liegt ja der Trugschluss), wohl aber, weil der Geschäftsführer für die Effekte seines Handelns trotzdem zur Rechenschaft gezogen werden kann. Er hat eben die Umweltschäden billigend in Kauf genommen, was auch juristisch als indirekte Intention (Fahrlässigkeit) gelten kann. In jedem Fall ist es hier hilfreich, nicht nur die logischen, sondern auch die psychologischen Gründe für derart vielfältige Schlussfolgerungen zu kennen. An dieser Stelle eröffnet sich für die Didaktik der Philosophie und Ethik ein neues und interessantes Forschungsfeld.

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