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Der »Nach-denken«-Ansatz
ОглавлениеGeorg Wilhelm Friedrich Hegel
Im Allgemeinen unterscheidet man [ein] philosophisches System mit seinen besondern Scientien und das Philosophiren selbst. Nach der modernen Sucht, besonders der Pädagogik, soll man nicht sowohl in dem Inhalt der Philosophie unterrichtet werden, als daß man ohne Inhalt philosophiren lernen soll; das heißt ungefähr: man soll reisen und immer reisen, ohne die Städte, Flüsse, Länder, Menschen u.s. f. kennen zu lernen.
Vor’s Erste, indem man eine Stadt kennen lernt, und dann zu einem Flusse, andern Stadt u. s. f. kommt, lernt man ohnehin bei dieser Gelegenheit reisen, und man lernt es nicht nur, sondern reist schon wirklich. So, indem man den Inhalt der Philosophie kennen lernt, lernt man nicht nur das Philosophiren, sondern philosophirt auch schon wirklich. Auch wäre der Zweck des Reisenlernens selbst nur, jene Städte u. s. f., den Inhalt kennen zu lernen.
Zweitens enthält die Philosophie die höchsten vernünftigen Gedanken über die wesentlichen Gegenstände, enthält das Allgemeine und Wahre derselben; es ist von großer Wichtigkeit, mit diesem Inhalt bekannt zu werden, und diese Gedanken in den Kopf zu bekommen. Das traurige, bloß formelle Verhalten, das perennirende inhaltslose Suchen und Herumtreiben, das unsystematische Raisonniren oder Spekuliren hat das Gehaltleere, das Gedankenleere der Köpfe zur Folge, daß sie nichts können. […] Das unsystematische Philosophiren ist ein zufälliges, fragmentarisches Denken, und gerade die Konsequenz ist die formelle Seele zu dem wahren Inhalt.
Drittens. Das Verfahren im Bekanntwerden mit einer inhaltsvollen Philosophie ist nun kein anderes als das Lernen. Die Philosophie muß gelehrt und gelernt werden, so gut, als jede andere Wissenschaft. Der unglückselige Pruritus, zum Selbstdenken und eigenen Produciren zu erziehen, hat diese Wahrheit in Schatten gestellt; – als ob, wenn ich, was Substanz, Ursache, oder was es sey, lerne, – ich nicht selbst dächte, als ob ich diese Bestimmungen nicht selbst in meinem Denken producirte, sondern dieselben als Steine in dasselbe geworfen würden; – als ob ferner, indem ich ihre Wahrheit, die Beweise ihrer synthetischen Beziehungen, oder ihr dialektisches Uebergehen einsehe, nicht selbst diese Einsicht erhielte, nicht selbst von diesen Wahrheiten mich überzeugte, – als ob, wenn ich mit dem pythagoräischen Lehrsatz und seinem Beweise bekannt geworden bin, nicht ich selbst diesen Satz wüßte und seine Wahrheit bewiese. So sehr an und für sich das philosophische Studium Selbstthun ist, eben so sehr ist es ein Lernen; – das Lernen einer bereits vorhandenen, ausgebildeten, Wissenschaft. Diese ist ein Schatz von erworbenem, herausbereitetem, gebildetem Inhalt; dieses vorhandene Erbgut soll vom Einzelnen erworben, d. h. gelernt werden. Der Lehrer besitzt ihn; er denkt ihn vor, die Schüler denken ihn nach. Die philosophischen Scientien enthalten von ihren Gegenständen die allgemeinen wahren Gedanken; sie sind das resultirende Erzeugniß der Arbeit der denkenden Genie’s aller Zeiten; diese wahren Gedanken übertreffen das, was ein ungebildeter junger Mensch mit seinem Denken herausbringt, um eben so viel, als jene Masse von genialischer Arbeit die Bemühung eines solchen jungen Menschen übertrifft. Das originelle, eigenthümliche Vorstellen der Jugend über die wesentlichen Gegenstände ist Theils noch ganz dürftig und leer, Theils aber in seinem unendlich größern Theile Meinung, Wahn, Halbheit, Schiefheit, Unbestimmtheit. Durch das Lernen tritt an die Stelle von diesem Wähnen die Wahrheit. Wenn einmal der Kopf voll Gedanken ist, dann erst hat er die Möglichkeit selbst die Wissenschaft weiter zu bringen und eine wahrhafte Eigenthümlichkeit in ihr zu gewinnen; darum aber ist es in öffentlichen Unterrichtsanstalten, vollends in Gymnasien, nicht zu thun, sondern das philosophische Studium ist wesentlich auf diesen Gesichtspunkt zu richten, daß dadurch etwas gelernt, die Unwissenheit verjagt, der leere Kopf mit Gedanken und Gehalt erfüllt, und jene natürliche Eigenthümlichkeit des Denkens, d. h. die Zufälligkeit, Willkür, Besonderheit des Meinens vertrieben werde. […]
Der Jugend muß zuerst das Sehen und Hören vergehen, sie muß vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden, auf diesem Boden sehen, Bestimmungen festhalten und unterscheiden lernen. […]
Man kann nämlich entweder vom Sinnlichen, Konkreten anfangen wollen, und dieses zum Abstrakten durch Analyse heraus und hinaufpräpariren, so, – wie es scheint, – den naturgemäßen Gang nehmen, wie auch so vom Leichtern zum Schwerern aufsteigen. Oder aber man kann gleich vom Abstrakten selbst beginnen, und dasselbe an und für sich nehmen, lehren und verständlich machen. Erstlich, was die Vergleichung beider Wege betrifft, so ist der erste gewiß naturgemäßer, aber darum der unwissenschaftliche Weg. Obwohl es naturgemäßer ist, daß eine das Runde ungefähr enthaltende Scheibe aus einem Baum stamme, durch Abstreifen der ungleichen, herausstehenden Stückchen nach und nach abgerundet worden sey, so verfährt doch der Geometer nicht so, sondern er macht mit dem Zirkel oder der freien Hand gleich einen genauen abstrakten Kreis. Es ist der Sache gemäß, weil das Reine, das Höhere, das Wahrhafte natura prius ist, mit ihm in der Wissenschaft auch anzufangen; denn sie ist das Verkehrte des bloß naturgemäßen, d. h. ungeistigen Vorstellens; wahrhaft ist jenes das Erste und die Wissenschaft soll thun, wie es wahrhaft ist. – Zweitens ist es ein völliger Irrthum, jenen naturgemäßen, beim konkreten Sinnlichen anfangenden und zum Gedanken fortgehenden Weg für den leichtern zu halten. Er ist im Gegentheil der schwerere; wie es leichter ist, die Elemente der Tonsprache, die einzelnen Buchstaben, auszusprechen und zu lesen, als ganze Worte. – Weil das Abstrakte das Einfachere ist, ist es leichter aufzufassen. Das konkrete sinnliche Beiwesen ist ohnehin wegzustreifen; es ist daher überflüssig, es vorher dazu zu nehmen, da es wieder weggeschafft werden muß, und es wirkt nur zerstreuend. Das Abstrakte ist als solches verständlich genug, so viel nöthig ist; der rechte Verstand soll ja überdieß erst durch die Philosophie hineinkommen. Es ist darum zu thun, die Gedanken von dem Universum in den Kopf zu bekommen; die Gedanken aber sind überhaupt das Abstrakte. […]
Hält man sich nun bloß an die abstrakte Form des philosophischen Inhalts, so hat man eine (sogenannte) verständige Philosophie; und indem es auf dem Gymnasium um Einleitung und Stoff zu thun ist, so ist jener verständige Inhalt, jene systematische Masse abstrakter gehaltvoller Begriffe, unmittelbar das Philosophische als Stoff, und ist Einleitung, weil der Stoff überhaupt für ein wirkliches, erscheinendes Denken das Erste ist. Diese erste Stufe scheint daher das Vorherrschende in der Gymnasial-Sphäre seyn zu müssen.