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Phänomenologie und Dialektik

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Zu diesem Methodenkonzept folgen nun zwei Beispiele aus Phänomenologie und Dialektik. Diese Denkrichtungen scheinen weiter voneinander entfernt zu liegen, weil sich die Phänomenologie einmal gegen die wissenschaftlich verstandene Dialektik des 19. Jahrhunderts gewendet hat. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten, wo man sie nicht ohne weiteres erwartet. Wenn es in der Phänomenologie um die Rettung der Phänomene geht, lässt sich eine Parallele zu dem klassischen Reflexionsverhältnis »Sein und Schein« der Dialektik ziehen. Auch dort wird versucht, den »Schein« nicht als bloße Täuschung misszuverstehen, sondern als Moment der Lebenswirklichkeit aufzuwerten. Ziel ist es etwa, die »scheinbaren« Selbstverständlichkeiten der alltäglichen Wahrnehmung aufzudecken.

Dabei sind die konstitutiven Selbstbeschreibungen dieser Denkrichtungen für didaktische Zwecke keineswegs maßgebend. So hat der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, – gemessen am überaus umfangreichen Werk – wenig anwendungsorientierte Studien verfasst und dies seinen Schülern überlassen. Und das phänomenologische Motto »zu den Sachen selbst« ist eher irreführend, weil es die Illusion einer »unmittelbaren« Wahrnehmung erzeugt. Dieser Grundsatz wird nur aus dem entstehungsgeschichtlichen Kontext verständlich, in dem die lebensweltlichen Erfahrungen gegen einen als übermächtig empfundenen Szientismus abgegrenzt werden sollten. Damit wurde die vermeintliche Unmittelbarkeit der alltäglichen Wahrnehmung zur Konstitution einer ganzen Philosophie erklärt. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass gerade auch die Alltagserfahrung von stillschweigenden Vorannahmen geprägt wird. Im Gegenzug soll nun die phänomenologische Analyse dazu dienen, derartige Voraussetzungen wie Gedanken, Gefühle und Urteile einer philosophischen Reflexion zugänglich zu machen. Die phänomenologische Praxis unterscheidet sich also von dem Selbstverständnis der Phänomenologie.

Diese Beobachtung hat für die Unterrichtspraxis weitreichende Konsequenzen.14 Die Konstitutionsthese der Phänomenologie, unmittelbar »zu den Sachen selbst«, kann im Unterricht getrost ignoriert werden. Demgegenüber sind alle vorhandenen praktischen Methoden aufzubieten, die es erlauben, unbewusste Vorannahmen unserer alltäglichen Wahrnehmungen und Erfahrungen freizulegen: wie z. B. verzögerte Wahrnehmung, Ent-Täuschung, Perspektivwechsel, Verlangsamung oder Dehnung von Ereignissen. Zu diesen Verfahren können die folgenden Aufgaben gestellt werden:

 – Ent-täuschung: Schreiben Sie ein Essay über eine Situation, in der sich eine bestimmte Erwartung nicht erfüllt hat. Welche Gedanken und Gefühle gingen Ihnen dabei durch den Kopf?

 – Perspektivwechsel: Schreiben Sie ein Essay zu diesen oder ähnlichen Themen: Wenn ich ein alter Mensch von 80 Jahren wäre. Wenn ich ein bestimmtes Tier wäre? Wenn ich als Mars-Mensch auf die Erde käme?

 – Verlangsamung oder Dehnung: Schreiben Sie ein Essay, in dem Sie ein kurzes Ereignis (z. B. einen Sturz vom Fahrrad) möglichst ausführlich darstellen und dabei Ihre Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken schildern.

Nach meinen Erfahrungen mit phänomenologischen Essays von Schülern und Studenten zeigt sich dabei zweierlei: Einerseits bedarf es einer methodisch geschulten und auch zu übenden Kunstfertigkeit des Schreibens, um eigene Erfahrungen überhaupt offen zu legen. Andererseits kommen gerade mittels dieser Schreibtechniken persönliche Erlebnisse zum Ausdruck, die im üblichen Schul- und Seminarbetrieb kaum angesprochen werden.

Auf ähnliche Weise gilt es in der Dialektik zwischen Konstitution und Methode zu unterscheiden. Führt man sich etwa Hegels »Wissenschaft der Logik« vor Augen, hängt die Bedeutung der einzelnen Aussagen von deren jeweiliger Stelle im philosophischen System ab. Wer beispielsweise die Denkfigur »Sein und Schein« oder die Begriffe »Identität, Unterschied, Widerspruch« herausgreift, wird unerbittlich darauf verwiesen, dass er es hier mit der »Wesenslogik« zu tun hat, die auf die »Seinslogik« aufbaut und zur »Begriffslogik« überleitet.15 Im »Wesen« reflektiert sich das Sein; daher handelt es sich bei diesen Begriffen um »Reflexionsbestimmungen«. Derartige Explikationen sind im Philosophie- und Ethikunterricht unangebracht. Sie führen auch zu keiner praktikablen Methode.

Wohl aber lässt sich genau aus dieser Passage die implizite Methodologie der Hegel’schen Logik herauslesen.16 Didaktische Transformation bedeutet hier, die Reflexion auf das eigene Verfahren aus dem Kontext der Systematik zu lösen und in ein eigenständiges Verfahren umzuformulieren. Das Unterrichtsziel besteht darin, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, einen »dialektischen Essay« zu schreiben. Die Schwierigkeit liegt dabei weniger in der Formulierung von These und Antithese als in deren Überwindung, um die streitenden Gegensätze in eine eigenständige und überraschende Synthese zu überführen. Nach der damit verbundenen Methode von »Sein und Schein« können auch Essays über alltägliche Erfahrungen von Entfremdungen, Verkehrungen, Verselbständigungen und Verdinglichungen (Technik, Ökonomie, Bürokratie, gestörte Kommunikation) verfasst werden.

Moderne Philosophiedidaktik

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