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2. Die Aufgabe der Konkretisierung
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Der Maßstab der Unlauterkeit ist normativer Art. Er verweist nicht auf die in der Rechtswirklichkeit bestehenden Gebräuche, Gepflogenheiten oder „Standards“, die der Rechtsanwender nur empirisch zu ermitteln hätte. Die Anschauungen der beteiligten Verkehrskreise geben dem Rechtsanwender Hinweise und Anregungen, mehr nicht. Das gleiche gilt für die „Verhaltenskodices“ i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 5 UWG (Nr. 10 RegE) und Art. 2 lit. f, 10 UGP-RL. Sie stehen nicht über dem Recht und können dieses auch nicht ersetzen, sondern lediglich Aufschluss darüber geben, was in der Rechtswirklichkeit als zweckmäßig und gerecht angesehen wird.
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Der Rechtsanwender hat daher selbst zu entscheiden, was in einem konkreten Fall der „Anstand“ gebietet, und ob die betroffene geschäftliche Handlung diesem Gebot entspricht.[113] Die Entscheidung erfolgt durch Bewertung der Tatsachen an Hand rechtlicher Maßstäbe, nicht – jedenfalls nicht ausschließlich und auch nicht überwiegend – durch Beweisaufnahme über die herrschende Verkehrsauffassung. Die Maßstäbe hat der Rechtsanwender vor allem der Entstehungsgeschichte und dem Zweck der Generalklausel, ihrem systematischen Zusammenhang mit einschlägigen Vorschriften innerhalb und außerhalb des UWG sowie den Vorgaben des Verfassungsrechts zu entnehmen. Auch Präjudizien spielen im Wettbewerbsrecht eine erhebliche Rolle.
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Demzufolge verlangt die Konkretisierung der „Unlauterkeit“ mehr – und anderes – als eine Abwägung der Interessen der beteiligten Marktteilnehmer, auch wenn Rechtsprechung und Literatur immer wieder auf dieses Instrument zurückgreifen.[114] Soweit es um die individuellen Belange der Marktteilnehmer geht, schützt das UWG – als Sonderdeliktsrecht – ohnehin nicht abstrakte „Interessen“, sondern konkrete, wettbewerblich relevante Rechtsgüter (vgl. Rdnr. 89 ff). Das ebenfalls zu berücksichtigende kollektive „Interesse der Allgemeinheit“ an einem unverfälschten Wettbewerb (§ 1 S. 2 UWG (Abs. 1 S. 2 RegE)) ist außerdem anderer Art als die Interessen der Marktteilnehmer, weil ihm ein greifbares Zuordnungssubjekt fehlt, und lässt sich schon deshalb nicht einfach „aufwiegen“. Vor allem wird der Vorgang einer „Abwägung“, bei dem sich die Waage einem einzelnen Interesse zuneigen müsste, der in § 1 UWG (Abs. 1 RegE) zum Ausdruck gebrachten Gleichberechtigung der Schutzzwecke (vgl. Rdnr. 102) nicht gerecht.
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Der Vorgang der Konkretisierung des Merkmals der Unlauterkeit ist daher ein von rechtlichen Maßstäben geleiteter Prozess wechselseitiger Anpassung, in dem ggf. zwischen den verschiedenen betroffenen Schutzzwecken des UWG praktische Konkordanz hergestellt werden muss. In diesem Prozess hat die Konkretisierung immer von einem bestimmten Sachverhalt auszugehen. Erforderlich ist eine „Gesamtwürdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls“,[115] des „Gesamtcharakters“ des betroffenen Verhaltens nach seinem konkreten Anlass, seinem Zweck, den eingesetzten Mitteln, seinen Begleitumständen.[116] Die für einen konkreten Fall entwickelten Grundsätze dürfen nur mit Vorsicht auf andere Fälle übertragen werden.