Читать книгу Römische Poesie - Michael Albrecht - Страница 34
Gegen Religion?
ОглавлениеEine Erläuterung verdient Lukrezens Absicht, den menschlichen Geist von den engen Fesseln der religiones zu befreien (932). Die Vorstellung hatte sich schon früher (62–65) bildhaft verdichtet: „Als das menschliche Leben vor aller Augen schmählich darniederlag, am Boden unterdrückt unter der schwer lastenden Religion, die den Sterblichen aus den Himmelsregionen ihr Haupt zeigte, indem sie sie mit grauenerregendem Anblick bedrohte …“ Wie Lukrez dort ausführt, war es die Leistung Epikurs, erstmals sein Antlitz gegen dieses Schreckbild zu erheben. Eine solche Auszeichnung einer großen Persönlichkeit, der eine geradezu göttliche Prophetenrolle zugeschrieben wird, finden wir schon vor Lukrez bei Empedokles,21 für den Pythagoras der große Meister war. Wenn Lukrez an unserer Stelle (932) sagt, er „fahre fort“ (pergo), den Geist von den religiones („Rücksichten“) freizumachen, so bezeichnet er sich damit als Jünger Epikurs, der dies „zuerst“ (66 primus) getan habe. Ohne die schwierige Frage ‚Lukrez und die Religion‘ lösen zu wollen, sei an zweierlei erinnert: Das Epikureertum bekämpft die „Dämonenfurcht“ (δεισιδαιμονία), den Aberglauben (superstitio) mit ihren schädlichen Auswirkungen auf den Seelenfrieden; es lässt aber die Frömmigkeit (εὐσέβεια)22 bestehen bzw. erfüllt sie mit neuem Inhalt; in diesem Sinne ist die epikureische Religionskritik eine verschärfte Fortsetzung von Ansätzen, die wir schon bei Xenophanes und Platon finden. Insofern hat Lukrez recht, wenn er sich von Anfang an gegen den Vorwurf der impietas verwahrt (80f.). Zum andern kann er als Poet nicht restlos auf Bilder aus Mythos und Religion verzichten23. Vom Standpunkt seiner Lehre bleibt ihnen ein nur vorläufiger, relativer Wert eigen; in den Händen des geborenen Dichters aber gewinnen sie ein starkes Eigenleben, das oft zu der Frage geführt hat, wie sich seine Religionsfeindlichkeit und etwa der herrliche Venushymnus, der das Lehrgedicht eröffnet, miteinander vereinbaren lassen.24 Lukrezens Antwort können wir dem Fortgang unseres Textes (935ff.) entnehmen.