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Latenz und Adoleszenz

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Mit dem Ausklingen der frühen Kindheit gleitet der Entwicklungsprozess in eine Periode der relativen Ruhe über, die als Latenz bezeichnet wird. Es ist eine Epoche der Übung und der Bewährung im Umgang mit Aufgaben, Belastungen und Krisen. In dieser Zeit geht es weniger um Neuerwerb als um die Festigung und Erweiterung des Bestehenden. Es ist die Schulzeit, in der mit der Ausdifferenzierung von sozialen Fertigkeiten, Wissen und Kenntnissen, mit der Entwicklung von Geschicklichkeiten und Begabungen die Weichen für spätere Lebensformen gestellt werden.

Sie mündet mit dem sexuellen Reifungsschub der Pubertät in die Adoleszenz102: Jetzt geht es um die verstärkte Wahrnehmung von sexuellen Triebbedürfnissen, die Veränderung des Körperbildes und eine endgültige Ausformung der Geschlechtsidentität. Parallel entstehen die Suche nach der persönlichen sozialen Rolle und die zunehmende Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben in Übereinstimmung mit oder in Abgrenzung von familiären und sozialen Erwartungen. Die Stabilisierung der Identität ist die wichtigste Aufgabe dieses Entwicklungsabschnitts. In der Wahrnehmung der eigenen Person, der anderen Menschen, des Lebens, stellen sich neue Perspektiven ein. Die Bedeutung der Familie tritt gegenüber der von Gleichaltrigen zurück. Die Gegenwartsorientierung der Kindheit weicht der Zukunftsorientierung der Jugendzeit.

In der Spätadoleszenz und dem frühen Erwachsenenalter folgt die Lösung vom Elternhaus und aus den Primärbeziehungen. An die Stelle des Bedürfnisses, in Gruppen zu sein, tritt nun zusehends das Bedürfnis, die eigene Individualität zu entwickeln. Dieses Alter ist mit Neubindungen an Personen, Ziele und Werte verbunden, mit Partnerwahl und Berufswahl.

Entwicklungspsychologisch sind die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter eine kritische Phase. Die Änderungen im Selbsterleben und in den Beziehungen, Lösung und Neubindung greifen tief in das Gefüge der Persönlichkeit ein und führen zu einer alterstypischen Labilisierung mit Erschütterungen und Krisen. Deshalb gilt diese Lebensphase auch als »normative Identitätskrise«103. Dabei brechen oft alte Wunden der Kindheitsentwicklung wieder auf und bewirken eine dauerhafte Destabilisierung und neurotische Dekompensation. Nicht nur Essstörungen, allen voran die Anorexia nervosa (»Pubertätsmagersucht«), können die Folge sein, auch Zwangsstörungen, schizoide Störungen, Depressionen oder organische Erkrankungen wie die Neurodermitis treten in diesem Alter oft erstmals in Erscheinung. Fatale Entwicklungen treten ein, wenn die Entwicklung sich nicht im angemessenen Schutzraum der Familie vollzieht, besonders wenn Gewalt und sexueller Missbrauch in die sensiblen Prozesse dieses Alters eingreifen. Dann kann es zu dauerhaften posttraumatischen Veränderungen der Persönlichkeit kommen. Viele neurotische Störungen auf niederem Strukturniveau kommen durch das Zusammenspiel frühkindlicher Entwicklungsstörungen mit traumatischen Erlebnissen in Kindheit und Jugend zustande.

Psychotherapie und Psychosomatik

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