Читать книгу Psychotherapie und Psychosomatik - Michael Ermann - Страница 96
2.3.2 Die frühe Individuationsentwicklung92 Differenzierung und Integration ab dem zweiten Lebenshalbjahr
ОглавлениеMit sechs bis neun Monaten beginnt mit der Ablösung aus der engen symbiotischen Verschränkung die Individuationsentwicklung. In der Differenzierungsphase vollzieht der heranwachsende Säugling nun schrittweise emotional nach, was er bis dahin nur mehr oder weniger rudimentär erfassen konnte: Dass er ein von seiner Umgebung getrenntes, »gesondertes«, »besonderes« Wesen ist. Nun wird er gewahr, dass die Pflegepersonen, auf die er angewiesen ist, vom eigenen Selbst getrennte Personen mit eigener Existenz und eigenem Willen sind. Das Erleben von oralen und emotionalen Entbehrungen führt nun zum Bewusstwerden der Getrenntheit. Damit entwickelt sich der Bindungskonflikt als depressiver Grundkonflikt zwischen Sehnsucht nach einem idealen Objekt und Objektenttäuschung. Der Säugling muss und kann erkennen, dass Objekte nicht selbstverständlich zur Verfügung stehen und er die eigenen Bedürfnisse regulieren muss.
Diese Wahrnehmungen verstärken die Verlassenheitsangst, die sich durch Wut, oral getönte Aggressivität und zerstörerische Impulse gegen die Pflegeperson äußert. Diese Gefühle werden durch Projektion auf die Pflegepersonen bewältigt, d. h. statt eigene Wut zu erleben, wird der andere feindselig erlebt. Indem die feindselig erlebten anderen zu Verfolgern werden, wird die Verlassenheitsangst in Verfolgungsangst umgewandelt. Nach und nach entstehen durch Spaltung zwei polare Vorstellungen: die von einer »nur-guten« Beziehung bzw. einem »nur-guten« Objekt für Lust- und Geborgenheitserleben und die von einer »nur-schlechten« Beziehung bzw. einem »nur-schlechten« Objekt für Frustrations- und Verfolgungserleben.
Die Welt und das innere Erleben werden dadurch in »nur-gut« für Sicherheit und Geborgenheit, Befriedigung, Verfügbarkeit und Anwesenheit und in »nur-schlecht« für Hilflosigkeit, Frustration, Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit polarisiert. Es entsteht eine gespaltene Welt.93 Das ist die schizoid-paranoide Position 94 nach Melanie Klein. Sie ist für die frühe Individuationsentwicklung prägend. Durch die Polarisierung entsteht der Wechsel zwischen dem Gewahrwerden der Getrenntheit und ihrer Verleugnung durch Verschmelzungswünsche, der das beginnende zweite Lebensjahr beherrscht.