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B.Effektiver Rechtsschutz

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50Eng mit dem Rechtsstaatsprinzip verbunden ist der effektive Rechtsschutz.39 Er wird grundlegend durch unterschiedliche Ausprägungen im GG wie der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) und den weiteren Regeln über die Rechtsprechung (Art. 92 GG) gewährleistet. Der Rechtsschutz gegen Handlungen der Verwaltung ist gesondert in Art. 19 Abs. 4 GG geregelt, der ein eigenes Grundrecht40 und zugleich eine zentrale „Strukturscheidung“ für den subjektiven Rechtsschutz41 beinhaltet. Teilweise wird auch von einer „Grundsatznorm für die gesamte Rechtsordnung“ gesprochen.42 Das Grundrecht ist stark normgeprägt, was bedeutet, dass hauptsächlich der Gesetzgeber von Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet wird.43 In der verwaltungsrechtlichen Fallbearbeitung ist dieses Grundrecht daher nur selten zu prüfen. Für die Verwaltung ergeben sich aus dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes vielmehr zwei maßgebliche Auswirkungen: der Umfang der gerichtlichen Kontrolle und die (erhöhten) Begründungspflichten bei sofortiger Vollziehung.

51Art. 19 Abs. 4 GG sieht eine grundsätzlich weite und umfassende Prüfung des Verwaltungshandelns vor.44 Kehrseite dieser umfassenden Prüfung in der Begründetheit eines Rechtsbehelfs ist der strenge „Filter“ der möglichen subjektiven Rechtsverletzung in der Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs: Nicht irgendwer kann vor Gericht klagen, sondern nur solche Personen, die eine Verletzung eines eigenen (= subjektiven) Rechts geltend machen können (Klagebefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO). Kann der Adressat dies geltend machen – das kann er stets, wenn er sich gegen einen ihn belastenden Verwaltungsakt wehrt45 – prüfen die Gerichte grundsätzlich alle formellen und materiellen Voraussetzungen des Handelns. In bestimmten, gesetzlich angeordneten Fällen ist der Prüfungsumfang jedoch reduziert (Ermessensspielräume, Beurteilungsspielräume, …), siehe → Online-Fall 446, → Fall 2 und die obigen Ausführungen zur Gewaltenteilung → Rn. 24 ff.

52Obwohl sich der effektive Rechtsschutz hauptsächlich im gerichtlichen Verfahren auswirkt, hat er auch eine bestimmte „Vorwirkung auf das Verwaltungsverfahren“.47 Daraus können vor allem erhöhte Anforderungen an die Begründung des Verwaltungshandelns gestellt werden, wie bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO).48

Gerade die Anordnung der sofortigen Vollziehung wird in Praxis und Klausur oft ungenügend begründet, obwohl § 80 Abs. 3 VwGO unmittelbar die besondere Begründung anordnet. Folge fehlerhafter Begründung ist die sofortige Stattgabe des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht. Es ist schon aus diesem Grund wichtig, die gegenüberstehenden Abwägungspositionen genau zu erfassen: Das Interesse des Adressaten an einem effektiven Rechtsschutz vor Durchführung der angeordneten Maßnahme und das besondere Interesse der Allgemeinheit an einer ausnahmsweise sofortigen Vollziehung. Es dürfte offenkundig sein, dass es sich hierbei um Fragen der Eilbedürftigkeit bzw. Dringlichkeit dreht.49 Es genügt daher nicht, die Ermessensbegründung der Hauptentscheidung zu wiederholen.50 Es muss dargelegt werden, welche Risiken in welchem Zeitraum mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich um einen gravierenden Eingriff in das Recht auf effektiven Rechtsschutz und ggf. andere Grundrechte handelt. Auf keinen Fall dürfen floskelartige Formulierungen oder bloße Textbausteine verwendet werden, die in einer Vielzahl anderer Fälle verwendet werden könnten.51 Siehe zur Umsetzung → Fall 9 und Fall 13.

53Begründungsbeispiele für die sofortige Vollziehung

Schuhverkäufer S hat 10.000 € Steuerschulden und 15.000 € Schulden gegenüber seinen Lieferanten. Bei drei Vollstreckungsversuchen konnte kein Geld beigetrieben werden. Er wurde ferner wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Weil S uneinsichtig ist, ordnet die zuständige Gewerbebehörde die Untersagung der gewerblichen Tätigkeit (§ 35 Abs. 1 S. 1 GewO) sowie die sofortige Vollziehung dieser Maßnahme (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) an.

Voraussetzung für die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses, welches das Interesse des Adressaten an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs übersteigt.

54Eine ungenügende Formulierung – wie sie in Klausur und Praxis häufig vorkommt – lautet etwa: „Das besondere öffentliche Interesse liegt im Haushaltsinteresse und dem Schutz der Allgemeinheit vor straffälligen Gewerbetreibenden. Ihr Interesse ist zwar hoch zu gewichten (starker Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG), aber das öffentliche Interesse überwiegt.“

In dieser Formulierung werden der Einzelfall und dessen konkrete Auswirkungen nicht gewürdigt. Es bleibt für den Adressaten unklar, warum der Fall derart dringlich ist, dass ausnahmsweise eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs entfällt.

55Ausreichend bis gut: „Das besondere öffentliche Interesse liegt darin, den öffentlichen Haushalt vor weiteren Steuerschulden zu schützen. Sie haben bereits 25.000 € an Schulden. Ferner sind Sie straffällig geworden, sodass die Allgemeinheit auch vor weiteren Straftaten geschützt werden soll. Dem gegenüber hat Ihr Interesse, zunächst ein Rechtsbehelfsverfahren durchzuführen, zurückzustehen.“

Die Dringlichkeit wird implizit durch die Höhe der Steuerschulden und dem Verweis auf eine Straftat dargelegt, konkret abgewogen für die Zukunft wird jedoch nicht.

56Gut bis sehr gut: „Das besondere öffentliche Interesse überwiegt Ihr Interesse an der aufschiebenden Wirkung eines etwaigen Rechtsbehelfs. Es liegt darin begründet, dass die Allgemeinheit vor weiteren Steuerschulden und Ihre Lieferanten und Kunden vor unbezahlten Rechnungen und Wuchergeschäften zu schützen sind. Trotz erheblicher Schulden (25.000 €) und Zahlungsunfähigkeit (3 erfolglose Vollstreckungsversuche) betreiben Sie weiter Ihr Gewerbe. Zwar wurde Ihre Strafe zur Bewährung ausgesetzt, sodass von einer positiven Prognose auszugehen ist (§ 56 StGB). Sofern wir allerdings Ihre Gewerbeausübung weiterhin zuließen, ist hinreichend wahrscheinlich, dass sich Ihre gewerbebezogenen Schulden weiter anhäufen und Sie daher andere unlautere Methoden wählen könnten oder zumindest künftig weitere Schulden aufbauen werden. Dies kann bei einer voraussichtlichen Dauer eines Rechtsbehelfsverfahrens von ca. einem Jahr zu erheblichen finanziellen Schäden bei Dritten führen. Der Schutz Dritter vor diesen Schäden überwiegt Ihr Interesse an der vorherigen Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens.“

Hier werden die Tatsachen (Höhe der Schulden, Anzahl der Vollstreckungsversuche) bewertet (erheblich) und zur Grundlage einer nachvollziehbaren negativen Prognose (hinreichend wahrscheinlich, weitere Anhäufung) der Dringlichkeit herangezogen. Damit wird der Fall umfassend bewertet und nachvollziehbar begründet, warum der Ablauf eines eventuellen Rechtsbehelfsverfahrens nicht abgewartet werden kann.

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