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II.Schutzpflichten des Staates
Оглавление72Komplexer sind die Fälle, in denen eine Schutzpflicht des Staates geprüft wird, dazu → Online-Fall 16. Typischerweise sind dies Fälle, in denen ein Bürger von der Verwaltung ein Einschreiten gegen einen (vermeintlichen) Missstand, insb. störende Dritte, verlangt, dazu → Fall 5. Sie sind komplex, weil der Schutz des einen fast immer die Einschränkung der Rechte des anderen bedeutet. So wird im obigen Beispiel durch die Lärmschutzanordnung nach § 17 Abs. 1 BImSchG die körperliche Unversehrtheit der Nachbarn geschützt. Der Anlagenbetreiber kann zugleich gewichtig in seiner Berufsfreiheit eingeschränkt werden. Um die gegensätzlichen Interessen sauber abzuarbeiten, ist eine ordentliche Prüfungsstruktur wichtig. Dazu ist es hilfreich, wenn man sich verinnerlicht, worauf Schutzpflichten überhaupt Auswirkungen haben und wann eine solche vorliegt.
73Auswirkungen haben Schutzpflichten vor allem auf die Frage nach dem Einschreiten selbst („Ob“ des Einschreitens, Entschließungsermessen) sowie der Wahl der konkreten Maßnahme („Wie“ des Einschreitens, Auswahlermessen). Sind die Folgen für den Betroffenen (im Beispiel: den Nachbarn) derart gravierend, dass ein Unterlassen unverhältnismäßig wäre, verdichtet sich jedenfalls das Entschließungsermessen „auf Null“. Die Nachbarn haben dann einen Anspruch auf Einschreiten.
Es liegt auf der Hand, dass das Entschließungsermessen wesentlich einfacher „auf Null reduziert“ sein kann als das Auswahlermessen: Der Verwaltung stehen für gewöhnlich viele unterschiedliche Maßnahmen zur Verfügung, um den Schutz des Betroffenen zu gewährleisten. Dazu ein weiteres
Beispiel: Überschreiten die Lärmimmissionen einer Bar jedes Wochenende die erlaubten Grenzwerte, können zum Schutz der Nachbarn unterschiedlichste Auflagen nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 GastG erlassen werden: Einbau einer Schallschutztür, Beschränkung der Lautstärke, Beschränkung der Uhrzeit für Musik und weitere mehr. Sind die Beeinträchtigungen für eine Vielzahl von Nachbarn gravierend und weigert sich der Barbetreiber, ist anstelle der Auflage eventuell sogar an einen Widerruf der Gaststättenerlaubnis zu denken, § 15 Abs. 2 GastG.
Welche dieser Maßnahmen gewählt werden darf, richtet sich nach einer ausführlichen Abwägung der zu schützenden Belange des Betroffenen und der abwehrrechtlichen Belange des Beschränkten.
74Ein Recht auf Tätigwerden ergibt sich nicht so selbstverständlich aus den Grundrechten wie das Recht zur Abwehr einer belastenden Maßnahme. Es genügt nicht, den sachlichen Schutzbereich über die auswendig gelernten Definitionen zu bestimmen. Vielmehr muss hergeleitet werden, dass aus dem jeweiligen Grundrecht auch konkret eine Schutzpflicht erwachsen kann. Das wird deutlicher mit einem
75Beispiel: 50 m neben der Gaststätte A eröffnet die neue Gaststätte B mit einem ähnlichen Angebot wie A. A hat nunmehr massive Gewinneinbuße, weil ihre ehemaligen Kunden das Essen bei B besser finden. Letztlich muss A den Betrieb aufgeben.
Obwohl hier der Beruf (Art. 12 Abs. 1 GG) der Gaststättenbetreiberin A betroffen ist, muss der Staat nicht einschreiten.7 Es gibt daher keine Rechtsgrundlage in der Gewerbeordnung oder dem Gaststättengesetz, die eine Schließung oder Beschränkung neuer Gaststätten für einen solchen Fall vorsieht.
76Die Herleitung der Schutzpflicht erfolgt im Rahmen des sachlichen Schutzbereiches8 abhängig vom jeweiligen Grundrecht.9 Weiterer, sehr wichtiger Unterschied zur abwehrrechtlichen Konstellation ist, dass sich die Schutzpflichten wegen der vielfältigen Handlungsmöglichkeiten vorrangig an den Gesetzgeber richten. Er hat den Schutzpflichten nachzukommen und sie zu konkretisieren. Diese Verpflichtung hat er vielfältig, insb. durch Strafvorschriften (etwa Totschlag, § 212 StGB; Körperverletzung, § 223 StGB; Betrug, § 263 StGB) oder Vorschriften wie dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), bereits erfüllt. Das bedeutet für die verwaltungsrechtliche Fallbearbeitung, dass ein Einschreiten der Verwaltung aus grundrechtlichen Schutzpflichten nur im Ausnahmefall und regelmäßig nur für höchstrangige Schutzgüter in Betracht kommt. Sie spielen daher vor allem im Rahmen der körperlichen Unversehrtheit eine Rolle, etwa im obigen Beispiel des Nachbars einer zu lauten Bar. Es bedeutet auch, dass die Verwaltung eine entsprechende einfachgesetzliche Rechtsgrundlage benötigt, um einschreiten zu können.