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I.Der Standardfall: Grundrechte als Abwehrrechte
Оглавление69In erster Linie sind Grundrechte Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und begrenzen insofern die Reichweite staatlichen Handelns (insb. als gesetzliche Grenze des Verwaltungsermessens i. S. d. § 40 LVwVfG). Dies ist allgemein anerkannt und muss – im Gegensatz zu Schutzpflichten – nicht erörtert oder hergeleitet werden. Grundrechte sind weder im Bürger-Bürger- noch im Staat-Staat-Verhältnis anwendbar.
Ein Nachbar wird daher nicht in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG „verletzt“, wenn die Bar im Nebengebäude nachts zu laut ist (häufiger Formulierungsfehler in Klausuren). Beleidigt Autofahrer A den Autofahrer B durch die allseits bekannte Mittelfinger-Geste, greift A nicht in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) des B ein.
70Werden Grundrechte als Abwehrrechte geprüft, spitzt sich die Prüfung letzten Endes auf die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahme zu. Hier wird die Verhältnismäßigkeit in Form des sog. Übermaßverbotes relevant: Ist der Eingriff so intensiv, dass er nicht mehr verhältnismäßig ist? Gefragt wird nach der äußeren Grenze des staatlichen Handelns.
Davon zu unterscheiden ist das sog. Untermaßverbot, das insb. bei Schutzpflichten des Staates relevant wird: Hat eine Untätigkeit des Staates derart gravierende Folgen für den Bürger, dass es unverhältnismäßig ist? Gefragt wird hier nach dem Minimum des staatlichen Einschreitens, dazu → Online-Fall 15, → Fall 5.
Die Verwaltung kann im Rahmen ihres Ermessens diejenigen Maßnahmen durchführen, die zwischen diesen beiden (von Fall zu Fall unterschiedlichen) Grenzen liegen.
Will die Verwaltung gegen eine lärmende Industrieanlage mit einer Anordnung nach § 17 Abs. 1 BImSchG einschreiten, hat sie im Regelfall die Berufsfreiheit des Anlagenbetreibers (Art. 12 Abs. 1 GG) zu berücksichtigen. Zu prüfen ist in dieser Hinsicht, ob etwa die Anordnung einen unverhältnismäßig hohen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG darstellt (Übermaßverbot). Kommt sie im Laufe der Sachverhaltsaufklärung zu dem Schluss, dass damit gewichtige Einschränkungen der Anlage einhergehen, kann sie sich grundsätzlich auch gegen ein Einschreiten entscheiden. Es liegt auf der Hand, dass ein Unterlassen der Anordnung das Übermaßverbot nicht verletzen kann.
Stört der Lärm jedoch Nachbarn, könnte das Unterlassen der Verwaltung deren Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) verletzen (Untermaßverbot). Hier ist also noch zu prüfen, ob die Verwaltung tätig werden muss, ein Unterlassen also rechtswidrig wäre.
71Wehrt sich jemand gegen eine ihn belastende Maßnahme des Staates, so ist er regelmäßig widerspruchs- und klagebefugt. Das ergibt sich aus der Funktion der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) als sog. Auffanggrundrecht. Es ist daher nie gänzlich auszuschließen, dass ein Adressat (und nur er) nicht zumindest in Art. 2 Abs. 1 GG durch eine belastende Maßnahme verletzt sein könnte (sog. Adressatentheorie).
Aus der Rechtswidrigkeit einer solchen belastenden Maßnahme folgt dann in der Regel die Rechtsverletzung und damit die Begründetheit des Widerspruchs oder der Klage. Prozessuale Besonderheiten in der Abwehrkonstellation sind regelmäßig nur bei Drittanfechtungen etwa eines Nachbars gegen eine Baugenehmigung zu beachten.