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B.Prüfung der Grundrechte I.Zur Reihenfolge der Grundrechtsprüfung
Оглавление84In welcher Reihenfolge die Verletzung von Grundrechten zu prüfen ist, richtet sich nach der Art der möglicherweise betroffenen Grundrechte. In einem ersten Schritt muss daher überlegt werden, welche Grundrechte im konkreten Fall für welchen Adressaten überhaupt betroffen sein könnten.
Grundsätzlich gilt: Für jeden Adressaten und jedes Grundrecht ist hierbei eine gesonderte Prüfung erforderlich. Das meint auch die verkürzte, „kleine Grundrechtsprüfung“, bei der nur die Verhältnismäßigkeit geprüft wird: je Grundrecht und Adressat muss eine eigene Verhältnismäßigkeit geprüft werden.22 Nur bei erkennbarem Gleichlauf (etwa bei Allgemeinverfügungen) verschiedener Adressaten oder absolut identischem Prüfungsinhalt kann die Prüfung in den Prüfungsarbeiten (aber auch nur dort) ausnahmsweise zusammengezogen werden. Im Zweifel ist stets getrennt zu prüfen.
85Exkurs
Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ist hierbei stets auch an die vorrangige Prüfung der Grundfreiheiten des Unionsrechts zu denken. Diese müssen also zuerst geprüft werden. Die Prüfung der EU-Grundfreiheiten ersetzt aber nicht die Prüfung der Grundrechte des Grundgesetzes, diese werden unmittelbar danach geprüft (Stichwort: nur Anwendungsvorrang, kein Geltungsvorrang).
Daneben können die Grundrechte der europäischen Grundrechtecharta zu prüfen sein. Sie sind gem. Art. 51 der Charta anwendbar, wenn die nationalen Verwaltungsbehörden Unionsrecht durchführen. Das setzt nicht voraus, dass eine unionrechtliche Norm (etwa eine Richtlinie oder Verordnung) unmittelbar angewendet wird. Vielmehr genügt es, dass die nationalen Normen das Unionsrecht umsetzen. Das ist vor allem im Umweltrecht der Fall.
Subsidiär ist an die Grundrechte aus der EMRK zu denken.
86Das Verhältnis dieser Prüfungen zueinander wird aufgrund der fortschreitenden Europäisierung und der mittlerweile aufgestellten Grundsätze des BVerfG zunehmend komplexer.23 Inwiefern sich dies auf die Prüfungsreihenfolge und Darstellung auswirkt, ist noch nicht vollumfänglich beantwortet. Im Zweifel gilt, dass in einem Gutachten stets zunächst alle in Betracht kommenden Grundrechte und Grundfreiheiten zu prüfen sind. Sollten diese Prüfungen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, ist anschließend daran zu erörtern, welches Ergebnis „sticht“.
87Kommen für einen Adressaten mehrere Grundrechte des Grundgesetzes in Betracht, so gilt zunächst die Regel, dass Freiheitsgrundrechte vor Gleichheitsgrundrechten zu prüfen sind. Innerhalb der Gruppe der jeweiligen Grundrechte (das gilt für Freiheitsgrundrechte und Gleichheitsgrundrechte) gilt dann, dass das speziellste Grundrecht zuerst zu prüfen ist.
Bei den Freiheitsgrundrechten entfällt eine Prüfung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), wenn der Schutzbereich eines speziell(er)en Freiheitgrundrechts eröffnet und ein Eingriff in diesen bejaht wurde. Unbeachtlich ist dabei, ob das speziellere Grundrecht verletzt wurde oder nicht. Art. 2 Abs. 1 GG tritt als subsidiäres Auffanggrundrecht zurück und kommt nur dann zur Anwendung, wenn kein anderer Schutzbereich – bezüglich des konkreten Adressaten – eröffnet ist. Dazu zählt insb. der Fall, dass ein Deutschen-Grundrecht (bspw. Art. 8 Abs. 1 GG) nur deswegen nicht anwendbar ist, weil der Adressat kein Deutscher i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG ist.24
88Bei den übrigen Freiheitsgrundrechten sollte mit der Prüfung des jeweils sachnächsten Grundrechts begonnen werden. Kann aufgrund des Sachverhalts das sachnächste Grundrecht nicht sicher bestimmt werden, so beginnt man mit der Prüfung des Grundrechts mit der strengsten Schrankenregelung (also Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt vor Grundrechten mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt vor Grundrechten mit einfachem Gesetzesvorbehalt).
Im Rahmen dieser Prüfung muss dann kenntlich gemacht werden, ob das Freiheitsgrundrecht in seiner abwehrrechtlichen Funktion (Regelfall) oder als Schutzpflicht (selten) geprüft werden soll.