Читать книгу Data Leaks (2). Wer kennt deine Gedanken? - Mirjam Mous - Страница 11
Prissy
ОглавлениеMo bleibt wie ein angespülter Ertrunkener auf dem Lüftungsschacht liegen. Ein Ertrunkener ohne Beine, denn die baumeln noch im Loch. Ich sehe es im Bruchteil einer Sekunde, während ich mich – noch immer im Schneidersitz –, so schnell und leise es geht, auf den Rücken lege. Um danach sofort zu merken, dass jetzt meine Knie an beiden Seiten über den Lüftungsschacht hinausragen.
Sei’s drum. Ich traue mich nicht, mich noch einmal zu bewegen. Ich traue mich ja kaum zu atmen!
Das Schiebegeräusch ist weg, vielleicht weil die Tür zugegangen ist? Doch als ich die Ohren spitze, höre ich immer noch ein flüsterleises Summen. Ich weiß nicht, von wem oder was es stammt, nur dass es hin und her zu gehen scheint wie ein Rasenmäher auf einem Fußballfeld.
»All clear«, sagt ein Mann.
Eine Computerstimme klingt anders, also muss das hier ein Wärter aus Fleisch und Blut sein. Wahrscheinlich hat er gerade die Wege zwischen den Regalen inspiziert.
Ich schieße sofort eine ganze Salve an Gedankenstrahlen auf ihn ab: Bitte nicht hochschauen! Bitte bloß nicht hochschauen!
Das Piepen kommt plötzlich. Ein hohes Piepen, wodurch ich so erschrecke, dass ich in einem Reflex den Kopf hebe – und dann höre ich ihn nicht nur, sondern sehe ihn auch: einen großen Mann auf einem kleinen Roller. Er trägt ein Headset und einen blauen Sweater. Security steht in orangefarbenen Buchstaben auf seinem Rücken. Er fährt auf die linke Tür zu und dann ertönt wieder so ein Schiebegeräusch wie eben.
Ich wage es und setze mich auf, damit ich sehen kann, wo er ist. Rollermann saust in einen ähnlichen angrenzenden Raum und die Tür schließt sich hinter ihm.
»Der ist weg«, flüstere ich.
Mo kichert nervös – das erinnert mich an Flow und mich durchfährt ein Stich. Sie fehlt mir. Dabei weiß ich gar nicht mehr, ob wir noch BFFs sind. Manchmal clicken wir noch, aber es fühlt sich anders an als noch vor einer Woche. Als wäre ich in ein anderes Land umgezogen und gehörte nicht mehr in ihr Leben.
»Beeil dich«, sagt Lașer, während er versucht, Mo an den Fußknöcheln auf den Lüftungsschacht zu schubsen. »Ich will hier weg sein, bevor der nächste Wärter kommt.«
Und ich erst!
Zum zweiten Mal stelle ich mich hin und gehe, so schnell ich mich traue, zu der Wand, an der die Leiter hängt. Mo hat sich hingekniet und krabbelt wie ein Baby hinter mir her. Lașer folgt ihm mit der Lässigkeit eines Gleichgewichtskünstlers, wobei er Mo abwechselnd anfeuert und beschimpft, damit er sich beeilt.
Sobald ich bei der Leiter bin, schaue ich hinunter.
Die Luft scheint rein zu sein, aber wie lange noch?
Ich fasse die oberste Sprosse, mache einen Schritt hinüber und klettere hinunter, so schnell es geht. Während ich mir Mühe gebe, meine flatternden Nerven unter Kontrolle zu halten, suche ich hinter einem Regal Deckung.
Geschafft!
Jetzt noch Mo und Lașer.
Ich schaue hoch, wo Mo kurz vor einem Panikanfall steht, weil er zusehen muss, wie er vom Lüftungsschacht auf die Leiter kommt. Lașer murmelt etwas, das ich nicht verstehen kann, schraubt seine Finger um Mos Handgelenk und dirigiert Mos Hand in Richtung einer der Sprossen. Dann stellt er sich hinter Mo und redet erneut auf ihn ein.
Ich kaue an den Fingernägeln und spähe an den Regalen vorbei zu den Türen.
Wenn jetzt ein Wärter auftaucht, sind sie dran.
Wie kommen wir überhaupt in den nächsten Raum? Die Türen haben keine Klinke oder ein Display, auf dem man einen Zahlencode eingeben könnte. Wahrscheinlich reagieren sie nur auf bestimmte ID-Bändchen, wie die vom Personal.
Ich lege meinen Kopf an einen Akkubehälter. Das können wir vergessen. Ich will einen Verband um mein Handgelenk und Schmerztabletten und …
Mein Blick fällt auf die beiden Roller, die an einer Aufladewand lehnen. Sehe ich das jetzt richtig?
Ich riskiere es und verlasse mein Versteck, um sie mir näher anzuschauen.
Und tatsächlich! An beiden Lenkern befindet sich ein Schlüsselsender!
Es fühlt sich an wie ein Geburtstagsgeschenk, bloß dass ich noch eine Ewigkeit warten muss, bevor ich es auspacken darf. Mo mag zwar endlich auf die Leiter geklettert sein, aber das Tempo, in dem er hinuntersteigt …
»Bitte«, sage ich. »Da ist ja meine Oma schneller als du.«
Ich kann flehen, wie ich will. Erst als ich vor lauter Nervosität meinen Daumennagel abgebissen habe, erreicht er den Boden. Lașer dagegen ist superschnell und landet fast auf Mo.
»Da entlang. Let’s go.«
Ich stehe schon bereit mit einem Roller.
Mo tut plötzlich aufreizend cool, als müsste er sein Verhalten von eben gutmachen, und reißt mir den Lenker aus der Hand. »Steig hinten auf.«
»Steig doch selbst hinten auf«, schnauze ich.
»Nimm den.« Lașer reicht mir seinen Roller. »Du fährst. Ich übernehme die Navigation.«
Wie kann er nur so ruhig und gelassen bleiben?
Ich schäme mich ein wenig. Bestimmt hält er mich für kindisch. Den Blick von ihm abgewandt, steige ich schnell auf den Roller.
Sobald ich auf einen kleinen Hebel drücke, fangen die Räder an, sich zu drehen.
»Eins, zwei …«, höre ich Lașer sagen.
Bei »drei« springt er auf das Trittbrett und wir kippen fast nach hinten. Schnell verlagere ich mein Gewicht nach vorn und beuge mich über den Lenker. Mo lacht – ziemlich falsch, würde ich sagen– und ich spüre, wie Lașer sich leicht gebeugt hinter mich stellt und die Hände auf meine Schultern legt.
Um sein Gleichgewicht zu wahren, sage ich mir.
Zwei Pieptöne erklingen und die Schlüsselsender machen, was sie sollen. Mein Bauch verkrampft sich – bitte lass auf der anderen Seite der Tür keine Wachen stehen! – und dann schwirren wir in den nächsten Raum mit wiederum langen Regalreihen. Zum Glück ist der Mann mit dem Roller auch hier schon wieder weg; ungestört erreichen wir die nächste Tür.
Sesam öffne dich.
Wir kommen in einen langen Gang, der so unglaublich schmal ist, dass unsere Lenker sich berühren. Mo bremst schnell ab, fährt hinter uns. Ich umklammere die Griffe. Die LED-Lämpchen an der Decke färben Hände und Arme blau, als wäre ich Schlumpfine.
»Nur die Ruhe«, sagt Lașer. »Gleich müssen wir nach rechts abbiegen, in einen Seitengang.«
Ich drossele die Geschwindigkeit und lenke den Roller um die Ecke. Keine zehn Meter von uns entfernt taucht eine Stahltür auf, über der eine digitale Anzeige hängt. Die entlangziehenden Texte sind nicht wirklich beruhigend: ENDE SCHLÜSSELSENDERZONE – ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN – DAUERÜBEWACHUNG – CODE EINGEBEN – 03:46 …
Eine Uhr, die falsch geht?
Ich spüre ein Zwicken in der Schulter.
»Bis hier«, sagt Lașer.
Ich stelle den Hebel auf »Aus«. Die Sätze der Anzeige starten in die zweite Runde. Als Mo und ich unsere Roller an die Wand gelehnt haben, kommen die Ziffern wieder ins Bild.
03:43 …
Und dann kapiere ich es. »Die zählt rückwärts wie ein Countdown!«
Lașer nickt und fängt an, die Wand neben der Tür zu streicheln, als wäre es eine Kuschelwand.
»Der Zugangscode ändert sich alle halbe Stunde«, erklärt er. »Die Ziffern geben an, wie viele Minuten und Sekunden der aktuelle Code noch gilt.«
Seine unerschütterliche Ruhe finde ich plötzlich gar nicht mehr so cool. Ich meine: weniger als vier Minuten. Das ist doch superkurz!
Mo tastet unterdessen die Wand auf der anderen Seite der Tür ab.
»Was macht ihr denn da?«, frage ich.
»Irgendwo hier muss ein Bedien-Panel versteckt sein«, sagt Lașer. »Deswegen suchen wir nach Unebenheiten. Einen Schlitz, der auf eine Luke hindeutet. Ein Knöpfchen, das man eindrücken kann.«
Die Tür hat weder eine Taste noch eine Klinke, ist jedoch mit neun Stahlplatten verstärkt, was ich für unglaublich übertrieben halte, denn sie wirkt an sich schon dick und stark genug. Die Platten sind viereckig und hängen in Dreierreihen untereinander – ein Muster, das mich an die Startbildschirme unserer Schul-Portables erinnert. Nur stehen da Ziffern in den Vierecken, sodass man einen Code eingeben und sich einloggen kann.
Ich spüre das Blut in meinem Schädel. Was wäre, wenn …
Mit der Faust drücke ich auf das mittlere Viereck – im Stahl leuchtet ein Kreis mit einer Fünf auf. »Wieso versteckt?«
Lașer und Mo starren mich an, als wäre ich ein bislang unentdecktes Kunstwerk von Vincent van Gogh. Ich schaue zur Lichtschrift hinüber.
00:17.
»Der Code?«, rufe ich. »Wie ist der Code?«
Sekundenlang bleibt es beängstigend still.
»Na?«
»Den kennen wir nicht«, gibt Mo dann zu.
Der Gang schrumpft zu einer Felsspalte und der leuchtende Kreis ist jetzt ein böses Auge.
Ein Auge, das wieder erlischt.
»Ich hatte mit einem normalen Bedienpanel gerechnet«, sagt Lașer. »So wie heute Mittag bei der Downtown-Wache. Ein Schloss, das ich mit einem Dongel auslesen kann.«
»Und jetzt?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern. »Raten hat keinen Sinn. Die Anzahl der Ziffernkombinationen ist unendlich.«
Ich könnte losheulen! »Und was ist mit Bit’s a Mystery? Könnten sie uns nicht helfen?«
»Nein.« Mo fummelt am Computerschlüssel an seinem Handgelenk. »Weil sich der Code immer wieder ändert …«
Es ist, als würde ich einen Stummfilm anschauen. Mos Worte erreichen mich nicht mehr. Ich werde aufgesogen vom Bild des Computerschlüssels zwischen seinen Fingern. Eine dicke runde Scheibe mit mysteriösen Zeichen – und meiner Ansicht nach genauso groß wie der aufleuchtende Kreis eben.
»Gib mir mal Papas Computerschlüssel«, sage ich zu Lașer.
Er nimmt ihn aus seiner Hosentasche und sieht mich fragend an.
»Wenn es wirklich stimmt, dass wir mit unseren Schlüsseln die Computer der neuen Führenden knacken können – warum sollten sie dann nicht schon am Eingang funktionieren?«
Sieben ist meine Glückszahl. Ich drücke auf die dazugehörende Stahlplatte und lege meinen Anhänger auf den aufleuchtenden Kreis.
Er passt genau!
Bloß … Warum passiert da nichts?
Lașer reißt sich seine Kette vom Hals. »Vielleicht müssen wir wie bei Jungle Labyrint zusammenarbeiten.«
»Jungle Labyrint?«, kann ich ihm nur nachblöken.
»Ein Game, bei dem man versuchen muss, einen mit Edelsteinen verzierten Schädel zu finden. Er liegt in einer Höhle, aber er erweist sich als eine Art Sprengfalle – wenn ihn jemand hochhebt, werden alle Gamer eingesperrt. Beim Versuch, allein zu entkommen, scheitert man.«
Mo hält seinen Arm mit dem Computerschlüssel hoch. »Aber wenn man zusammenarbeitet …«
Die Sieben ist mittlerweile erloschen. Ich erwecke sie wieder zum Leben, indem ich meine Hand auflege. Lașer entscheidet sich für die dritte Platte und Mo drückt auf Nummer fünf.
Dreierreihe, denke ich.
Wir halten unsere Schlüssel bereit und Lașer zählt ab.
»Jetzt!«
Ich drücke die Daumen und schicke ein Stoßgebet los, während wir unsere Schlüssel exakt gleichzeitig an die leuchtenden Kreise drücken.
Ein lautes Seufzen ertönt.
Dann dreht sich die Tür von uns weg und öffnet sich.