Читать книгу Data Leaks (2). Wer kennt deine Gedanken? - Mirjam Mous - Страница 18
Holden
ОглавлениеMit dem Einschalten der Notsicherung ist offenbar auch ein Notsignal an die Außenwelt gegangen. Oder jedenfalls zu Adams. Die Ministerin für Sicherheit und Volksgesundheit – oder besser: für Lügen und Betrug – ist innerhalb von zwanzig Minuten vor Ort. Die Oberbefehlshaberin, Mr Nice und Spitzmaus bringen sie auf den Stand der Dinge.
Ich beobachte unterdessen das Krisenteam, das in aller Eile zusammengetrommelt wurde. Leute in Overalls fangen an, die Säulen zu beklopfen. Die IT-Experten holen geheimnisvolle Geräte aus ihren mitgebrachten Koffern und Rucksäcken. »So ein großes Update kann schon eine Weile dauern«, höre ich einen von ihnen sagen. Männer und Frauen in schicken Anzügen mischen sich mit gerunzelter Stirn in die Beratung. Jemand lässt das Wort »Verflechtung« fallen. Ernsthaft? Nennen wir das in Zukunft so?
Ich sehe es schon vor mir: die jährliche Ansprache am Denkmal für den Frieden während des Happy Days – bei der unsere heutigen Führenden natürlich von sprechenden Robotern ersetzt wurden.
»Nach den Bangen Jahren und der Großen Umkehr folgte endlich die Verflechtung, der Beginn unserer von künstlicher Intelligenz regierten perfekten Gesellschaft. Happy Happy Day!«
Gequirlte Kacke trifft es besser.
Aber vielleicht ist die Menschheit bis dahin längst ausgerottet und …
»Da ist Vera Paine!«, ruft die Oberbefehlshaberin.
Mit angehaltenem Atem schaue ich zur Tür.
Prissy ist nicht dabei. Bedeutet das, dass sie entkommen konnte? Oder haben sie sie verhaftet und zur Downtown-Wache gebracht?
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt Ministerin Adams Paine.
Die Direktorin nickt.
»Und die jungen Leute?«
»Sie hatten ein Fluchtauto bereitstehen«, erzählt Paine. »Ein blaues Coupé. Der Typ mit der Pistole zwang mich, ihm mein ID-Bändchen zu geben, damit ich ihnen nicht folgen konnte. Danach stiegen sie ein und fuhren in nördlicher Richtung davon. Mein Bändchen warfen sie ein Stück entfernt aus dem Autofenster. Bis ich es geholt hatte und zu meinem Wagen zurückkam, waren sie weit und breit nicht mehr zu sehen.«
Eine Nanosekunde lang vergesse ich alles um mich herum. Prissy hat es geschafft!
»Wir werden sie schon finden«, sagt Adams.
»Meiner Ansicht nach sind andere Dinge jetzt wichtiger«, sage ich.
Adams tut so, als würde sie mich nun erst entdecken, und betrachtet mich mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn das mal nicht Holden Winters ist, der Sohn von Eliza und Jack.« Dann richtet sie sich wieder an Paine. »Sollte er nicht im Cliffton sitzen?«
»Er ist mit mir hergekommen«, sagt die Direktorin. »Ich hatte gehofft, er könnte seine Schwester umstimmen.«
Ergreift sie Partei für mich oder versucht sie nur, sich selbst aus der Patsche zu holen?
»Prissy?« Adams schnalzt mit der Zunge. »Ich wusste es. Dieses kleine Biest hat meinen Schlüssel gestohlen, auch wenn ihre Mutter das nicht glaubte.«
Mr Nice hat unterdessen von irgendwo einen Stuhl herbeigeholt. »Ministerin Adams?«
»Vielen Dank.« Sie stellt sich auf die Sitzfläche und jemand reicht ihr ein Mikrofon.
»Liebe Anwesende«, sagt sie. Ihre Stimme klingt plötzlich ganz anders. »Zwei Szenarien sind möglich. Im besten Fall gelingt es uns, diese Verflechtung rechtzeitig zu lösen und den erlittenen Schaden auf ein Minimum zu beschränken. Gelingt das nicht, werden wir vor großen Herausforderungen stehen. Wie genau diese aussehen werden, kann ich nicht vorhersagen, aber koste es, was es wolle – wir müssen unbedingt vermeiden, dass unter der Bevölkerung Panik ausbricht. Sicherheit und Vertrauen sind die Stützpfeiler unserer Gesellschaft. Neben hundertprozentigem Einsatz erwarte ich von euch daher auch lebenslange Diskretion. Alles, was hier geschieht, bleibt unter uns. Ihr redet mit niemandem darüber. Weder mit euren Partnern oder Partnerinnen noch mit euren Kindern und nicht einmal im Schlaf.«
»Und was, wenn doch?«, fragt ein Mann.
»Die Konsequenzen stehen im Schweigedokument«, sagt Adams. »Jeder ist verpflichtet, dieses beim Verlassen des Saales zu unterzeichnen.«
»Und wenn ich nicht …«
»Ich werde euch nicht länger aufhalten und wünsche euch viel Erfolg.«
Adams reicht das Mikrofon blitzschnell Mr Nice, als wäre es ein Adventskranz, der Feuer gefangen hat, und springt vom Stuhl.
»Zum Glück nehmen sie alle Calmexin«, flüstert sie Paine zu.
Ich kann meine Klappe nicht mehr halten. »Genau wie diese blöden Wächter. Finden Sie es nicht komisch, dass Prissy und ihre Freunde …«
Paine legt mir ihre Hand auf den Arm. »Holden und ich gehen jetzt besser zurück ins Cliffton. In diesen unsicheren Zeiten brauchen mich die Bewohner mehr denn je.«
Obwohl diese Worte einen Brechreiz in mir auslösen, empfinde ich auch so etwas wie Respekt.
»Wie du willst«, sagt Adams.
Also sitzen Paine und ich wenig später in ihrem gelben Rennwagen, als wäre nichts geschehen.
»Können wir wirklich nicht kurz bei meiner Mutter vorbeifahren?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Wir müssen so schnell wie möglich raus aus der Stadt, bevor mein ID-Bändchen nicht mehr funktioniert.«
Zu meinem großen Erstaunen bin ich ganz glücklich darüber, dass wir zurückgehen. Seit ich dem Punkt in den Kontaktraum folgte, habe ich Jazz nicht mehr gesehen. Sie muss wissen, was alles passiert ist, damit sie sich selbst schützen kann.
Ohne Probleme erreichen wir den Tunnel und der Zaun öffnet sich genauso bequem wie auf dem Hinweg. Weil die neuen Machthaber das alles so in Ordnung finden? Oder können sie erst eingreifen, wenn die sogenannte Verflechtung vollendet ist?
Die letzten schwachen Sonnenstrahlen blitzen durch das Blattwerk.
»Ist es okay für dich, wenn ich ein Fenster öffne?«, fragt Paine. »Gesunde Waldluft ist so viel angenehmer als das Gebläse einer Klimaanlage.«
Wie kann sie nur so munter klingen?
Die Climate Control schaltet sich aus und eine warme Abendbrise weht ins Auto.
»Hilf mir mal kurz«, sagt sie und windet sich aus ihrer Weste.
Als ich sie zu mir ziehe, rutscht Paines Camphone aus einer der Taschen und fällt dicht vor meinen Füßen auf den Boden. Vielleicht funktioniert es ja wieder ganz normal und ich kann Ma heimlich eine Nachricht schicken! Ich hebe das Gerät auf, halte es versteckt zwischen meinem rechten Bein und der Autotür und fange an zu clicken.
Seltsam. Die zuletzt erhaltene Nachricht wurde um 17:08 Uhr empfangen – als wir gerade in der Computerzentrale waren. Paine hatte versucht, Ministerin Adams anzurufen, aber das hatte nicht funktioniert.
Zumindest hatte sie behauptet, dass es nicht funktioniert.
»Wunderbar, oder?«, sagt Paine, die Nase zum offen stehenden Fenster.
Ich gebe ein zustimmendes Räuspern von mir, während ich mit einem Ticken die Nachricht öffne.
Die Zukunft der Welt liegt in deinen Händen.
Wer der Absender ist, kann ich nicht sehen, und ein Profilbild fehlt.