Читать книгу Data Leaks (2). Wer kennt deine Gedanken? - Mirjam Mous - Страница 24
Holden
ОглавлениеDie beste Naturbeobachtung ever – und ich habe kein Camphone bei mir!
Der Bär kommt aus den Büschen, bewegt sich gemächlich auf einen Baum zu und legt die Vorderpfoten an den Stamm. Mit offenem Mund bestaune ich die fast zwei Meter große ungezähmte Urkraft im glänzenden Pelz. Der Koloss scheuert mit größter Leichtigkeit große Rindenstücke vom Baum, als wären es Papierblätter. Da kann man sich gut vorstellen, was er mit einer Menschhaut anstellen würde. Der Gedanke jagt mir Schauder über den Rücken, sorgt aber zugleich auch für einen Kick.
Der Bär geht in aller Ruhe seiner Sache nach und hat mich nicht bemerkt. Ich beobachte ihn gebannt, versuche, jede Einzelheit auf die Speicherkarte meines Gedächtnisses zu bannen und …
In der Ferne ertönt ein Glöckchen.
Shit! Der Bär hat es auch gehört. Jedenfalls schaut er verstört zur Seite und wittert. Ich zwinge mich mit aller Kraft, ruhig zu bleiben und mich nicht zu rühren. Schon das geringste Geräusch kann meine Anwesenheit verraten. Ein Blättchen, das unter meinem Schuh zerbröselt. Mein Ärmel, der an der Joggingjacke entlangstreift …
Ich kann mir die Mühe des Stillseins sparen. Hinter mir kommt das Glöckchen hörbar näher. Der Bär rutscht mit den Vorderpfoten den Stamm hinunter und hält den Kopf in Richtung Geräusch.
Gott sei Dank, er scheint abziehen zu wollen.
Aber dann dreht er den Kopf noch einmal um und hebt erneut die Nase.
Verdammt, er hat Witterung aufgenommen! Der Bär bleibt stocksteif stehen und schaut zu mir.
Mit stechenden, bösen Augen.
Und dann kommt er auf mich zu!
Mein Herz hämmert wie eine Faust gegen meine Rippen. Fieberhaft suche ich in meinem Hirn nach bekannten Bärenweisheiten. Wie war das noch? Muss ich schreien oder unbedingt still sein? Weil ich so verdammt nervös bin, werfe ich alles durcheinander. Ich weiß nur, dass ich auf keinen Fall rennen darf, sonst hält mich der Bär für eine Beute. Aber Totstellen ist auch falsch. Oder war das nur bei manchen Bären? So wie Schwarzbären auf Bäume klettern können und andere wiederum nicht? Das Problem ist nur, dass Schwarzbären genauso gut auch braun sein können und …
Fucking Hell! Er stellt sich auf die Hinterbeine und kommt wie ein Zirkusbär aus einem Zeichentrickfilm auf mich zu. Ich starre auf die scharfen Klauen, mit denen er meine Brust mühelos aufreißen kann.
Kategorie abenteuerliche Todesarten.
Mit zugeschnürter Kehle mache ich einen Schritt zurück.
Das Klingeln hat aufgehört.
Hinter mir höre ich eine Mädchenstimme. »Bleib stehen. Mach dich so groß wie möglich und schau ihn nicht an.«
Ich stehe augenblicklich still. Nicht aus Gehorsamkeit, sondern vor Schreck.
Ich hatte keine sprechenden Bäume erwartet. Wahrscheinlich ist es die Glöckchenbimmlerin von vorhin. So eine Tinkerbell-Fee, die jedem helfen will, was erst recht dazu führt, dass alles schiefgeht.
»Na, herzlichen Dank«, knurre ich zwischen den Zähnen hervor.
»Gern geschehen«, sagt sie. »Aber es ist vernünftiger, wenn du etwas leiser redest. Und halte deine Stimme möglichst tief.«
Der Bär bleibt in wenigen Metern Entfernung stehen. Obwohl er eigentlich nicht viel größer ist als ich, fühle ich mich wie eine Art Marienkäfer, verglichen mit ihm.
»Sorgen musst du dir erst machen, wenn er den Kopf schüttelt oder die Zähne fletscht«, flüstert Tinkerbell. »Oder wenn er anfängt zu fauchen, denn das macht er manchmal auch, bevor er angrei…«
»Halt die Klappe!«
»Ruhig«, zischt sie. »Aggression fordert Aggression heraus.«
Meine Muskeln sind wie straff gespannte Gummis. Es kostet mich meine ganze Selbstbeherrschung, nicht wegzurennen.
»Wenn du ruhig bleibst, gehen sie meist von selbst wieder«, fügt sie hinzu.
Vorläufig sieht es nicht so aus, als würde der Bär gehen wollen.
So wie Prissy endlos lange ein Gemälde betrachten kann, schaut er unablässig zu mir.
Wenn ich nichts tue, stehe ich an Happy Day noch hier.
»Geh jetzt.« Ich senke meine Stimme um eine Oktave und mache mich möglichst breit. »Zisch ab.« Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, wedele ich mit den Händen, wobei mir sofort klar wird, dass unvermutete Bewegungen total unvernünftig sind, denn ein erschrockener Bär ist ein gefährlicher Bär und …
Tolle Bärentipps! Er lässt sich auf die Vorderpfoten fallen, dreht mir den Hintern zu und verschwindet mit seinem schwankenden Passgang zwischen den Bäumen.
Es ist, als hätte mein Körper nur auf diesen Moment gewartet – ich zittere von Kopf bis Fuß und atme mit pfeifenden lang anhaltenden Tönen.
Jemand legt mir eine Hand auf den Rücken.
»Geht’s?«, erklingt Tinkerbells Stimme.
Ich versuche, mich blitzschnell wieder zu fangen. »Was glaubst du denn?«
»Dass es unüberlegt ist, ohne Bärenglöckchen in den Wald zu gehen«, sagt sie. »Oder du musst die ganze Zeit Selbstgespräche führen. Bären meiden Begegnungen mit Menschen. Sobald sie dich hören, machen sie einen großen Bogen um dich.«
Ich habe meine Muskeln wieder unter Kontrolle und hebe den Kopf.
Tinkerbell sieht nicht gerade elfengleich aus in ihrer groben, weiten Kleidung. Ihr krauses Haar wippt in einem hohen Knoten oben auf ihrem Kopf, um den Hals ist ein Strickschal gewickelt und sie trägt eine Motorradbrille wie normale Mädchen ein Haarband. Um die Schultern baumelt ein großer gestreifter Beutel, der an der Oberseite mit einer Kordel zugeschnürt ist, und am Ende dieser Kordel …
Ich schlage gegen das Bärenglöckchen. »Wenn du nicht so nervtötend klingelnd herumgelaufen wärst, hätte mich das Tier nie entdeckt.«
»Zum Glück ist es ja gut ausgegangen.« Sie klopft mir beruhigend auf die Schulter, als wäre sie meine Mutter, und schaut sich dann suchend um. »Was machst du hier eigentlich so ganz allein?«
Ich habe keine Lust, sie ins Vertrauen zu ziehen. In der letzten Woche bin ich ein bisschen zu oft reingelegt worden und ich weiß rein gar nichts über Tinkerbell.
»Du zuerst«, sage ich schnell.
»Ich mache Verbindungsarbeit für den Chief, und weil ich sowieso auftanken musste, habe ich beschlossen, mir mal kurz die Beine zu vertreten.«
»Der Chief?« Ich sehe sie fragend an.
»Das dachte ich mir schon. Du bist nicht von hier, was?« Sie nimmt meine Hände, damit sie meine Arme hochheben kann.
»Schon allein diese Klamotten …« Ihr Blick wandert von meinem nackten rechten zu meinem nackten linken Handgelenk.
Shit, wie soll ich das nun wieder erklären? Sie findet es natürlich seltsam, dass ich kein ID-Bändchen trage. Das ist im Cliffton geblieben und liegt in einem Schränkchen in Paines Appartement.
»Du bist bestimmt ein Asylsuchender!«, ruft Tinkerbell, bevor ich mir auch nur irgendwas habe ausdenken oder ihr erklären können. »Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Komm, du kannst mit mir fahren.«
Verblüfft lasse ich mich mitziehen.
Das Wort »Asylsuchender« kenne ich nur aus dem Geschichtsunterricht. Manche Politiker nannten sie »Glückssucher«. Das waren Menschen aus Kriegsgebieten oder armen Ländern, die während der Bangen Jahre in der Hoffnung auf ein besseres Leben unter lebensgefährlichen Umständen versuchten, unseren Kontinent zu erreichen. Die ursprüngliche Bevölkerung wollte sie jedoch nicht haben – also wurden hohe Zäune und Mauern errichtet, um die Neuankömmlinge draußen zu halten. Aber warum Tinkerbell jetzt glaubt, ich sei einer von ihnen …
Unter viel Gebimmel erreichen wir eine Kreuzung. Obwohl die Wege für ein Auto zu schmal sind, entdecke ich überall Reifenspuren. Tinkerbell zwängt sich zwischen ein paar Büschen durch und dann stellt sich heraus, dass dort ein altmodisches Fahrzeug steht, das ich nur aus Filmen kenne.
Ein Moped, tippe ich. Obwohl es auch ein Motorrad sein könnte.
»Das mit dem Auftanken meintest du also schon wörtlich«, sage ich.
»Hmmm.«
»Aber hier ist keine Tankstelle.«
»Ich nehme immer meinen eigenen Treibstoff mit. Zwei Flaschen unter dem Sattel und den Rest in meiner Tasche.«
Routiniert holt sie das Moped vom Ständer, besteigt es wie ein Reiter sein Pferd und tritt es mit dem linken Fuß an. Aus dem seitlichen Auspuff ertönt ein knatternder Lärm, der alle Grenzwerte mehr als überschreitet und wahrscheinlich jeden Bären im weiten Umkreis verjagt. Sie schiebt den gestreiften Beutel nach vorn, sodass er auf dem Tank ruht, zieht die Motorradbrille hinunter, bis die Scheibe vor ihren Augen sitzt, und klopft einladend auf den Sozius.
»Kannst du mich auch halten?«, frage ich, während ich mich hinter sie auf den Sattel schiebe.
Als Antwort zieht sie den Gashebel auf und wir stieben los.
Der Wald beherbergt ein ganzes Netzwerk aus Wegen. Obwohl Tinkerbell kein Navi verwendet, kennt sie die Strecke blindlings – als hätte sie den inneren Kompass einer Brieftaube.
Hin und wieder kommen wir an einem Moor vorbei oder einer offenen Fläche, um gleich darauf wieder in die Dämmerung einzutauchen. Der Wind reißt an meinen Haaren und kämpft mit den Beinen meiner Jogginghose. Manchmal schlittern wir kurz im lockeren Sand oder donnern einen Hügel hinauf und wieder hinunter und ich fliege fast aus dem Sattel. Es ist mir vollkommen egal. Das Dröhnen hat etwas in meiner Brust freigerüttelt und ich könnte unendlich lange so weiterfahren.
Erst als der Weg breiter wird, werde ich wieder aufmerksam. Gott sei Dank ist nirgends ein gelber Rennwagen auszumachen. Mit ein bisschen Glück ist Paine zum Cliffton zurückgefahren. Ich frage mich, wie sie meine Abwesenheit erklären wird. Wenn Ma und Ordnungshüter Chapman feststellen, dass ich verschwunden bin …
Vielleicht merken sie ja gar nichts, quengelt eine Stimme in meinem Kopf. Aber Jazz auf jeden Fall! Und die lässt die Sache bestimmt nicht auf sich beruhen.
Tinkerbell schaut sich um und brüllt so etwas wie: »Wir sind da!«
Mein Blick folgt ihrem ausgestreckten Finger zum Schild am Straßenrand.
DEAD ZONE steht darauf.