Читать книгу Data Leaks (2). Wer kennt deine Gedanken? - Mirjam Mous - Страница 9
Prissy
ОглавлениеIch versuche, an etwas Schönes zu denken. Daran, wie wir vor sehr langer Zeit Zug spielten – Papa, Holden und ich. Wir setzten uns hintereinander auf Stühle und Mama schaltete den Projektor ein. Virtuelles Reisen durch Berg und Tal war mein Favorit. Mit den Bildern und Geräuschen wirkte es, als würden wir wirklich irgendwohin fahren.
Es funktioniert nicht. Der Horrorzug, in dem ich jetzt sitze, steht auf einem toten Gleis. Ich habe einen Puls von mindestens hundertachtzig und …
Der Portable! Wir haben unsere Camphones im Wormhole gelassen, doch der Portable ist noch da. Ich zerre meinen Pulli hoch, ziehe den Portable mit einem Ruck aus meinem Hosenbund und prüfe die Empfangsstriche.
»Was machst du da?«, fragt Lașer.
»Wir müssen einen Notruf losschicken.«
»Idiotin.« Seine Hand ist schon unter meinem Arm durchgeschlüpft und schnappt sich den Portable. »Gleich bringst du noch unseren ganzen Plan durcheinander.«
»Immer mit der Ruhe, Lașer«, sagt Mo.
Als könnte ich nicht für mich selbst sprechen. Meine Angst schlägt in Giftigkeit um.
»Und berücksichtigt dieser fantastische Plan auch feindliche Ventilatoren?«
Ich meine es sarkastisch, aber Lașer hat einen blinden Fleck für jede Form von Kritik an seine Adresse.
»Selbstverständlich«, sagt er. »Ein Ventilator muss gewartet werden und kann kaputtgehen. Um an ihn dran zu kommen, haben sie hier oben eine Klappe eingebaut.«
Als Mo seinen Kopf in den Nacken legt und mit seiner Lampe die Decke beleuchtet, sehe ich tatsächlich etliche Nähte in der ansonsten glatten Wand.
»Unser Notausgang«, sagt er.
»Und der geht auch auf?« Immerhin blockierte der von der Downtown-Wache neulich und deshalb habe ich null Vertrauen in Notausgänge.
Als Mo nickt, bewegt sich der Lichtstrahl seiner Stirnlampe mit. »Und man braucht nicht mal einen Code oder ein ID-Bändchen. Es ist eine Klappe, die auch ohne Elektrizität bedienbar ist. Wenn man den Ventilator reparieren oder austauschen will, muss der Strom natürlich abgeschaltet werden und …«
»Jaja, jetzt wissen wir es ja«, sagt Lașer und gibt mir einen leichten Schubs gegen die Schulter. »Na los. Du sitzt am günstigsten.«
Ich winde mich zwischen den Jungs raus, damit ich mich hinhocken kann. Mein Handgelenk brennt immer noch, aber das Ziehen im Knie ist wundersamerweise verschwunden. Ich strecke die Arme, berühre die Klappe mit den Fingerspitzen und drücke mit aller Kraft.
Ja! Mit einem leisen schabenden Geräusch schiebt sie sich auf.
Ein klein wenig Licht fällt herein. Von einer Lampe, nehme ich an, denn das Grasdach hatte keine Fenster. Der kleine Strich wird zum Streifen und schließlich zu einem Viereck.
»Ho, langsam«, sagt Mo, »sonst kommen wir dem Ventilator zu nahe.«
Raus hier! Mit den Händen auf den Oberschenkeln drücke ich mich hoch.
Um fast augenblicklich am Hosenbund wieder runtergezogen zu werden.
»Nicht so schnell«, sagt Lașer. »Wir müssen die Klappe erst fixieren. Wenn das Ding weiter aufgeht, während du aus dem Lüftungsschacht kletterst, und du mit den Füßen in den Ventilatorblättern landest …«
Ich habe plötzlich einen metallischen Geschmack im Mund.
Mo zaubert eine Tube hervor und spritzt etwas Weißes in die Nähte. Anschließend zählt er leise bis zehn und fühlt an der Klappe. »Hält.«
»Okay«, sagt Lașer mir ins Ohr. »Du kannst.«
Sobald sich mein Kopf aus der Öffnung schiebt, stoße ich einen Schrei aus. Es ist, als würde ich auf dem fünf Meter hohen Aussichtsturm im großen Labyrinth von Funworld stehen. Nur werden die Wege hier nicht von hohen Hecken voneinander abgeschirmt, sondern von hohen Regalen mit Metallbehältern. Akkus, genauer gesagt. Ich erkenne sie von dem Film über Riesenbatterien, den man uns zu unserem Energieprojekt gezeigt hat.
Ist Schule also doch mal für was gut.
»Und?«, höre ich Lașer fragen.
Mein Blick scannt die Umgebung.
Der Lüftungsschacht wird uns nicht viel weiterhelfen. Er verläuft quer durch die Wand in den nächsten Raum. Unser einziger Ausweg sind die Türen – eine links und eine rechts – im Erdgeschoss, wir werden also runtersteigen müssen.
Leider hat dieser Ausguck nicht so eine praktische Wendeltreppe wie der Turm von Funworld. Ich sehe jedoch etwas Ähnliches wie eine superlange Schwimmbadleiter. Sie hängt an der Wand, neben dem Lüftungsschacht – leider an einer unglaublich unpraktischen Stelle, denn man muss schon eine Art Zirkusartist sein, um da dran zu kommen.
»Wir hängen über einer Riesenbatterie«, sage ich. »Die Aussicht ist fantastisch, aber es wird eine ziemliche Herausforderung werden, nach unten zu steigen.«
Zum Glück leide ich nicht unter Höhenangst.
Ich umfasse die Metallecken des Lüftungsschachts an beiden Seiten und nutze meine Hände als Enterhaken. Meine Armmuskeln sind stark und durchtrainiert vom vielen Schwimmen, sodass ich mich leicht aus der Öffnung hochziehen kann. Ich knie mich hin, gönne mir ein paar Sekunden, um mich an die Höhe zu gewöhnen, und richte mich dann langsam auf dem Schachtrohr auf.
Keine Panik, rede ich mir gut zu. Der rote Läufer am Eingang zu Cinema Starfilm ist nicht viel breiter als der Lüftungsschacht und von dem bin ich auch noch nie runtergefallen.
Vorsichtig drehe ich mich um, um zu sehen, wo die Jungs bleiben. Mos Kopf taucht aus dem Loch auf wie ein U-Boot mit nur einem Scheinwerfer.
Sein Gesicht erstarrt.
Der nörgelt bestimmt gleich wieder, ich soll nicht so gefährliche Sachen machen, denke ich.
Aber Mo sagt überhaupt nichts. Er nickt nur, mit einer Grimasse, die mich an das blaue Emoji erinnert: worried face.
»Hast du Angst?«, frage ich.
»Natürlich nicht.«
Und ob.
Ich setze mich im Schneidersitz auf die Klappe, rutsche auf dem Hintern zur Öffnung und strecke die Arme aus. »Komm, dann helfe ich dir.«
»Ich kann das schon selbst«, murmelt Mo, ohne ein Glied zu rühren.
Was ist das bloß bei den Jungs? Sie leben in einer vollkommen genderneutralen Gesellschaft und noch immer denken sie nicht daran, sich von einem Mädchen helfen zu lassen. Als würde das ihre Ehre ankratzen, oder was?
»Dann beeil dich«, erklingt Lașers hohle Stimme.
Auf ihn hört Mo. Mit Schweiß auf der Stirn kriecht er aus dem Lüftungsschacht. Ich rutsche ein Stück zurück, um ihm Platz zu machen und …
Ein Schock durchfährt mich. Irgendwo verschiebt sich was!
Für einen kurzen Augenblick glaube ich, dass sich die Klappe trotz des Klebers unter Mos Gewicht gelöst hat, bis mir klar wird, dass das Geräusch von unten kommt.
Eine der Türen geht auf!