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a) Die Organtheorie

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Die von der h.M. in Rspr. und Lit. vertretene Organtheorie stützt sich auf § 1 BRAO. Danach ist der Rechtsanwalt „unabhängiges Organ der Rechtspflege“. Damit soll der Verteidiger vorrangig in die Pflicht genommen werden. Der Verteidiger hat nach dieser Auffassung einen gesetzlichen Auftrag zu erfüllen, der nicht nur im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in dem Interesse einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege liegt. Als ein dem Gericht und der StA gleich geordnetes Organ der Rechtspflege soll der Verteidiger Teilhaber, nicht Gegner einer funktionsfähigen Strafrechtspflege sein. Ihn trifft nach dieser Theorie die Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen verläuft.[5]

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Es bestehen bereits Bedenken dahin, dass sich die Organtheorie auf die Bundesrechtsanwaltsordnung stützt. § 138 Abs. 1 StPO erlaubt auch Rechtslehrern an deutschen Hochschulen mit der Befähigung zum Richteramt die Übernahme von Strafverteidigungen. Auch dürfen Angehörige steuerberatender Berufe gem. § 392 Abs. 1 AO im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren als Wahlverteidiger tätig werden. Für diese gilt die Bundesrechtsanwaltsordnung ebenfalls nicht. Der Begriff „Organ der Rechtspflege“ ist zudem konturenlos. Er wird von der h.M. tendenziell dahin benutzt, um den Verteidiger zu disziplinieren und in den Dienst staatlicher Belange zu stellen. Dabei bedeutet „unabhängig“ i.S.v. § 1 BRAO in erster Linie strikte Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme. Die h.M. übersieht, dass § 43a Abs. 4 BRAO dem Rechtsanwalt die Vertretung widerstreitender Interessen generell verbietet. Damit sollen Loyalitätskonflikte und die damit verbundene Beeinträchtigung der Effektivität der anwaltlichen Beistandsleistung verhindert werden. In einen solchen Loyalitätskonflikt drängt die h.M. jedoch den Verteidiger. Er kann nicht einerseits einseitiger, streng parteiischer Fürsprecher und Beistand des Beschuldigten und andererseits Teilhaber einer funktionsfähigen Strafrechtspflege und damit verpflichtet sein, ein effektives, reibungsloses Verfahren mit zu gewährleisten. Dieser dem Verteidiger von der h.M. zugemutete Konflikt erinnert frappierend an den in § 356 StGB geregelten.

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Die StPO als maßgebliche Quelle des Strafverfahrensrechts verpflichtet den Verteidiger gerade nicht, als Gehilfe der Strafjustiz die Effektivität des Strafverfahrens zu gewährleisten. Im Gegenteil: § 145 Abs. 1 StPO verfügt, dass der Pflichtverteidiger in Fällen der notwendigen Verteidigung vom Vorsitzenden zu entpflichten ist, wenn er die Verteidigung nicht führt. Nicht ein Zuviel an Verteidigung, sondern ein Zuwenig wird vom Gesetz als Übel angesehen. Abgesehen von dieser Pflicht zur Verteidigung in den Fällen des § 140 StPO enthält die Strafprozessordnung sonst ausschließlich Verteidigerbefugnisse. Die angebliche Pflichtenstellung des Verteidigers ist ein contra legem geschaffenes Konstrukt.

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In der Praxis lässt die von der Rspr. angewendete Organtheorie den Rechtsunterworfenen regelmäßig im Stich. Die Rspr. beschränkt sich auf nichtssagende Floskeln, wie diejenige, dass prozessual zulässiges Verteidigerverhalten keine strafbare Strafvereitelung darstellen könne.[6] Was aber prozessual zulässig ist, bestimmen die Gerichte dann unter Rückgriff auf ebendiese Organtheorie selbst. Auffällig ist hierbei, dass die Rspr. bei der Bestimmung dessen, was nach ihrer Ansicht prozessual zulässig sein soll, in erster Linie nicht rechtliche, sondern ethisch-moralische Maßstäbe anlegt. Dies gipfelt dann in solchen Definitionsversuchen, dass keine effektive Strafverteidigung, sondern versuchte Strafvereitelung vorläge, wenn sich die Handlungen des Verteidigers als „verteidigungsfremdes Verhalten“ erwiesen, die sich nur den äußeren Anschein der Verteidigung gäben, tatsächlich jedoch nach den Maßstäben des Strafverfahrensrechts und des materiellen Strafrechts nichts zur Verteidigung beitragen könnten.[7]

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Hinzu kommt, dass die Rspr. die notwendige Einschränkung der Strafbarkeit des Verteidigers nicht auf der Ebene des objektiven Tatbestandes, sondern nahezu ausschließlich im Bereich des Vorsatzes vornimmt. Die Feststellungen des Tatrichters zur inneren Tatseite können von dem nunmehr angeklagten Verteidiger kaum erfolgreich angegriffen werden.[8]

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