Читать книгу Blaues Gold - P. D. Tschernya - Страница 21
Ein blöder Unfall
ОглавлениеEs war Sonntag und das gemeinsame Mittagessen bei Familie Strela beendet. Jerry und Jeff saßen auf ihren Zimmern. Beide waren beschäftigt und dachten gar nicht an Alis Fußballspiel, das in Kürze beginnen sollte. Jeff schmökerte in einem Wälzer mit dem Titel `Die Geheimnisse des Universums´. Ein Geschenk von seinem Bruder. Jerry selbst suchte konzentriert nach einem Fehler in seinem Programmcode. Beiläufig schaute Jeff auf die Uhr, da fiel ihm plötzlich Alis Einladung beim letzten Treffen ein. Er schlug das Buch zu und stürmte in Jerrys Zimmer.
„Jerry, es ist schon vierzehn Uhr. Wir kommen zu spät zum Anpfiff“, rief er gleich in der Tür.
„Das hat mir noch gefehlt“, schimpfte Jerry ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. „Verdammtes Fußballspiel. Ich würde lieber den Algorithmus hier korrigieren, statt zweiundzwanzig Idioten beim Hecheln hinter einem Ball zuzuschauen.“
„Was ist denn los?“, wunderte sich Jeff.
Genervt schaute Jerry seinen Bruder an. Gerade jetzt hatte er das Gefühl, einer Lösung sehr nahe zu sein.
„Fahr schon los, Jeff“, antwortete er stur. „Ich komme gleich nach, sobald ich das hier fertig hab.“
„Gut, dann geh ich alleine“, sagte Jeff enttäuscht.
Jerry war im Grunde kein Anhänger derber Sprüche. Aber wenn er wirklich einmal schlechte Laune hatte, dann war es ratsam, das Weite zu suchen.
Jeff holte sein Fahrrad aus der Garage, setzte sich Kopfhörer auf und trat in die Pedale.
`Wenn ich mich beeile, dann schaff ich es vielleicht gerade so bis zum Anpfiff und kann noch Musik hören´, dachte er. Erst vor drei Tagen hatte er sich neue Lieder runtergeladen.
Rasch durchquerte er sein Viertel und bog nach rechts auf die Hauptstraße zum Fußballstadion ab. Einige Meter hinter der Kreuzung stand am Straßenrand eine schwarze Limousine. Jeff blickte nach hinten, ob Autos kommen. Die Straße war frei und er machte einen Schlenker nach links, um die Limousine zu umfahren. Doch gerade in dem Augenblick setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Mit einem Ruck versuchte Jeff auszuweichen – aber es reichte nicht. Er wurde erfasst und auf die Gegenfahrbahn geschleudert. Jeff landete genau in der Spur von einem Autobus, der aus entgegengesetzter Richtung kam. Der Busfahrer trat auf die Bremse, dass die Reifen quietschten. Aber das tonnenschwere Ungetüm hatte viel Schwung, rutschte trotzig weiter und begrub Jeff mit seinem Fahrrad unter sich.
Auf dem weißen Kissen bewegte sich Jeffs Kopf langsam hin und her. Benommen versuchte er die Augen zu öffnen. Die Augenlider zitterten zwar leicht, aber dann sank er wieder in den Tiefschlaf. Ein paarmal geschah es so, während er allmählich aus der Narkose aufwachte. Endlich drangen die ersten Lichtstrahlen bis in sein Bewusstsein. Wie durch einen Nebel nahm er seine Umgebung wahr.
`Ich bin in einem hellen Zimmer. Liege in einem Bett. Aber, was mach ich hier?´
Draußen wurde es dunkel, gedämpftes Licht beleuchtete die Wände. Am Bettende nahm Jeff Umrisse von Menschen wahr.
„Ich glaube, er wacht langsam auf“, flüsterte jemand.
Jeff erkannte die Stimme seiner Mutter. Er wollte sich aufstützen, aber plötzlicher Schmerz zwang ihn, liegen zu bleiben.
`Was ist geschehen? Warum bin ich hier?´, fragte er sich.
Angelina ging zu ihm und streichte ihm zwei Haarsträhnen von der Stirn.
„Jeff, hörst du mich?“, fragte sie leise.
Neben Angelina erkannte Jeff das Gesicht seines Vaters.
„Wie fühlst du dich, mein Junge?“, fragte Igor.
Jeff schloss die Augen und wollte schlucken. Es ging nicht. Sein Mund war völlig trocken. Angelina stützte ihn und führte ein Glas Wasser an seine Lippen. Jeff wollte mit langen Zügen trinken, aber es war kaum Wasser im Glas.
„Du darfst noch nicht viel trinken“, sagte Angelina leise. „Wegen der Narkose.“
„Was ist passiert?“, fragte Jeff, nachdem er zwei Schluck Wasser genommen hatte.
„Du hattest einen Unfall und -“
Angelina versagte die Stimme, sie musste sich abwenden. Jeff fiel der letzte Sonntag ein.
`Ich war mit Jerry. Er war am Computer. Dann fuhr ich zum Fußballspiel von Ali. Da war ein Auto und dann ein Bus …´
„Hatte ich einen Unfall?“, fragte er leise.
„Ja, Jeff“, antwortete Igor. „Du bist von einem Bus angefahren worden.“
„Ich hab Schmerzen“, sagte Jeff. „Mir tut das linke Bein weh. Ist es etwa gebrochen?“
Sein Vater sah betreten zur Seite. Jetzt erst erkannte Jeff auch Jerry, links vorne am Bett. Jerry fuhr sich verlegen mit der rechten Hand über den Mund. Die Tür ging auf und ein Arzt betrat das Zimmer.
„Die Schwester teilte mir mit, der Patient sei aufgewacht“, sagte er und trat ans Bett. Igor machte ihm Platz.
„Ich bin Doktor Simon“, stellte er sich vor. „Wie fühlst du dich, Jeff?“
„Das linke Bein tut weh“, antwortete Jeff. „Eigentlich ganz unten, der linke Fuß.“
„Hm. Das sollte nicht wehtun“, sagte Dr. Simon. „Wir werden dir gleich noch eine Spritze geben.“
Dr. Simon schaute zu Jeffs Eltern und hüstelte verlegen.
„Weiß er schon …?“, fragte er leise, als er Angelinas verweintes Gesicht sah.
„Nein“, antwortete Igor heiser.
Dr. Simon wandte sich erneut Jeff zu.
„Ich muss dir etwas mitteilen, Jeff“, sagte er verlegen.
„Es ist doch nichts Schlimmes?“
„Nun, du hattest einen Unfall. Wir mussten operieren. Es ist … es war … dein Knöchel … er war stark gequetscht.“
Dr. Simon konnte die richtigen Worte nicht finden. „Wir haben alles versucht … aber wir konnten ihn nicht retten.“
Der Arzt schnaufte durch. Auch nach achtzehn Jahren Berufserfahrung als Unfallchirurg fiel es ihm nicht leicht, die ganze Wahrheit zu sagen. Besonders schwer war es, wenn die Patienten noch so jung waren.
`Der Junge ist kaum älter als mein eigener Sohn´, dachte Dr. Simon gerade.
„Was heißt das?“, fragte Jeff erregt. „Wann kann ich wieder gehen und Fußball spielen?“
Jeff hatte die Worte von Dr. Simon noch nicht erfasst.
„Ich weiß nicht“, antwortete der Arzt und schaute betreten zur Seite. „Wir mussten oberhalb des Knöchels amputieren. Es war nichts zu machen.“
„Mein Fuß ist weg?“, stammelte Jeff das Unfassbare.
Sein Hals schnürte sich zu und Tränen traten ihm in die Augen.
„Aber das geht nicht“, rief er verzweifelt. „Jerry, sag ihm, dass das nicht geht. Ich kann doch nicht …“
Jeff wollte sich aufstützen, sank aber auf sein Kissen zurück. Die Augen verschlossen fiel er tiefer und tiefer. Er wollte aufschlagen. Jetzt gleich. Sofort.
`Alles soll zu Ende sein´, dachte er, der Kummer verzerrte sein Gesicht. `Was wird jetzt aus Projekt M?´
Jeff drehte sich zur Seite, Tränen liefen über das Kissen und sickerten unter die Decke.
Angelina, Igor und Jerry sahen hilflos zu. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass Jeff sogleich heftig reagieren würde.
„Der Unfall ist sehr traurig, Jeff“, sagte Dr. Simon und berührte behutsam seine Hand. „Aber du hast überlebt und das ist das Wichtigste. Ich verspreche dir, wir werden eine gute Lösung für dich finden.“
Jeff zeigte keine Reaktion. Dr. Simon war sich sicher, dass er zugehört und verstanden hatte. Leise führte er Jeffs Eltern und Jerry aus dem Zimmer.
„Der Schock ist sehr tief“, erklärte er auf dem Gang. „Wir werden ihm noch eine Beruhigungsspritze für die Nacht geben. Dann schläft er wenigstens durch.“
„Ich bleibe bei ihm“, schluchzte Angelina. „Ich lasse ihn jetzt nicht alleine.“
Übernachtungen von Angehörigen im Krankenhaus waren eigentlich nicht gestattet. Aber Angelina gab nicht nach und Dr. Simon willigte schließlich ein.
Angelina verbrachte dann die ganze Nacht neben Jeffs Bett in einem Sessel. Ab und zu stand sie auf, sah ihn an, hielt seine Hand, berührte sanft seine Haare. Sie wünschte, sie wäre an seiner Stelle. Dieser Unfall hätte ihr passieren sollen, nicht ihrem geliebten Sohn. Am Morgen nach dem Frühstück verabschiedete sie sich schließlich übermüdet.
„Ich komme am Abend wieder, Jeff. Der Doktor hat erlaubt, dass ich auch außerhalb der Besuchszeiten kommen darf.“
An der Tür drehte sie sich um.
„Marco hat mich in der Nacht angerufen. Er will heute unbedingt vorbeikommen und dir ein neues Handy bringen. Ist das in Ordnung?“
„Ja“, antwortete Jeff gleichgültig.
„Gut, dann gebe ich ihm Bescheid.“
`Komisch´, überlegte Jeff. `An Marco hab ich bisher überhaupt nicht gedacht.´
***