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Die Krise

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Üblicherweise war der Februar kein niederschlagsreicher Monat. Aber dieses Jahr regnete es sich in der zweiten Woche richtig gut ein. Jeff fuhr daher lediglich zur Schule und zurück und ging tagsüber nicht aus dem Haus. Jerry verbrachte die Wochentage inzwischen in Orlando und fehlte ihm. Heute, am Mittwoch, hatte Mel bis abends Schule und Angelina war noch in der Arbeit.

Das Mittagessen nahm Jeff alleine zu sich, danach humpelte er auf sein Zimmer hoch. Beim Blick aus dem Fenster sah er graue Dunstschleier über die Nachbarshäuser ziehen. Und am Horizont türmten sich schon neue Wolkenberge auf. Marco würde heute nicht zu ihm kommen. Er musste mit seiner Mutter in der Stadt neue Klamotten kaufen, da er schon wieder gewachsen war.

Jeff warf sich auf sein Bett, um vor den Hausaufgaben etwas auszuruhen. Die Prothese saß schlecht und drückte. Er nahm sie ab und legte sie vorsichtig auf den Boden. Als er sich nach dem Kompressionsstrumpf streckte, um ihn anzuziehen, rutschte er vom Bett. Hilflos lag er auf dem Teppich und stierte auf die beiden Krücken, die außerhalb seiner Reichweite am Bettende lehnten. Bei ihrem Anblick überkam ihn ein Gefühl von Ohnmacht und Zorn. Er konnte sich gar nicht dagegen wehren.

Beim Aufstützen hielt er plötzlich seine Prothese in der Hand. Verbittert starrte er sie an – und schleuderte sie dann wütend gegen die Wand. Sie traf das Bild seiner alten Fußballmannschaft, es fiel zu Boden und das Glas zerbrach. Erbost und mit Tränen in den Augen hievte sich Jeff auf sein gesundes Bein und versuchte die Balance zu halten. Mit einem Satz sprang er zu seinem Stuhl, hob ihn über den Kopf und schlug ihn mit voller Wucht auf den Schreibtisch. Er erwischte auch den Bildschirm, der auf den Boden fiel, die Buchstaben der Computertastatur flogen durch die Luft und die Maus hinterher. In blindem Hass auf sein Schicksal begann Jeff wahllos um sich zu schlagen. Bei einer neuen ausholenden Bewegung verlor er das Gleichgewicht und stürzte erneut. Er schlug mit der linken Schulter auf, spürte aber keinen Schmerz mehr. Alles was er im Liegen in die Hand bekam, schleuderte er wütend von sich, zerrte an den Sachen, riss sie um. Keuchend versuchte er erneut aufzustehen und stieß dabei mit dem ungeschützten Stumpf gegen ein Tischbein. Wie ein tödlich verletztes Tier schrie er vor Schmerzen auf. Die kaum verheilten Narben waren aufgeplatzt und Blut spritzte auf den Teppich. Jeff begann jetzt erst recht, wie ein Wahnsinniger zu toben.

Im Erdgeschoss ging auf einmal die Tür auf, Angelina kam aus der Schule zurück. Aber Jeff nahm in seinem Wutanfall nichts mehr wahr, seine Sinne waren wie abgeschaltet.

„Jeff? Ist dir was passiert?“, rief Angelina erschrocken, als sie dumpfe Schläge aus seinem Zimmer hörte.

Sie ließ ihre Taschen fallen und rannte die Treppe hoch. Als sie die Tür zum Zimmer aufstieß, erwartete sie ein Bild der Verwüstung: Jeff kauerte mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden, der Teppich um ihn blutverschmiert, und zertrümmerte gerade mit dem Baseballschläger seinen Spielzeugschrank.

„Jeff, was machst du da?“, rief Angelina entsetzt. „Hör sofort auf damit!“

Gereizt fuhr Jeff herum und schleuderte dabei den Baseballschläger von sich. Angelina zuckte vor Schreck zusammen, der Knüppel verfehlte sie nur um Haaresbreite. Mit einem Mal wurde sie kreideblass, als sie Jeffs blutende Wunde erblickte. Sie stürzte zu ihm und zog ihn auf sein Bett hoch. Hilflos ließ es Jeff geschehen.

„Was ist passiert, Jeff?“, fragte Angelina verzweifelt. „Es war doch alles so gut gewesen.“

Sie hielt ihn fest in ihren Armen. Jeff wollte weinen, aber es kam keine Träne. Ein trauriger Schmerz schnürte ihm die Seele zu. Er musste es ihr sagen. Er musste das Geheimnis, das er schon so lange in sich trug, endlich loswerden.

„Mama … ich schaff es nicht“, schluchzte er. Jeffs Worte waren kaum zu verstehen. „Ich will sterben. Mama … bitte lass mich sterben …“

Angelina und Jeff verließen die Kräfte, hemmungslos begannen sie zusammen zu weinen.

`Wie kann ich ihm helfen? Ich dachte, er sei schon weit überm Berg. Was für ein Irrtum …´

Angelina hielt Jeff so fest, als hätte sie Angst, er könnte wirklich von ihr gehen. Dann begann sie ihn sanft zu wiegen, streichelte sein Gesicht und zwang sich langsam zur Ruhe.

„Jeff, mein Liebling“, sagte sie mit zitternder Stimme. „So was darfst du nie sagen. Nie denken. Ich liebe dich. Wir alle lieben dich. Wir wollen, dass du lebst.“

`Wenn wenigstens Igor hier wäre´, seufzte Angelina in Gedanken. `Er ist stark und hat uns immer beschützt.´

Jeff schluchzte vor sich hin. Sein Körper zuckte immer wieder, während ihn Angelina weiter zärtlich streichelte.

Die Minuten vergingen, Jeffs Atem wurde ruhiger, das Zittern in seiner Seele ließ nach.

„Du blutest, Jeff“, sagte Angelina als sie merkte, dass Jeff wieder ansprechbar war. „Ich werde dich verbinden und dann fahren wir zusammen ins Krankenhaus. Okay?“

„Okay, Mama“, antwortete Jeff, kaum hörbar.

Er setzte sich auf und wischte die Tränen aus den Augen.

Seit sechs Jahren hatte er seine Mutter nicht mehr mit `Mama´ angesprochen. Immer nur `Mutter´. Als er zehn Jahre alt geworden war, da wollte er so erwachsen wie sein großer Bruder Jerry sein. Heute war er wieder ein ganz kleiner Junge, angewiesen auf die Hilfe seiner Mutter.

Angelina versorgte ihn notdürftig und rief dann im Holmes Krankenhaus an, direkt in der Abteilung von Dr. Simon.

„Guten Tag, Frau Strela am Apparat. Bitte verbinden Sie mich mit Dr. Simon“, sagte sie, kaum dass abgehoben wurde.

„Das ist im Augenblick nicht möglich, Frau Strela“, bekam sie zur Antwort. „Dr. Simon ist in einer Operation.“

„Dann richten Sie bitte aus, dass ich in einer Stunde mit meinem Sohn Jeff kommen werde. Seine Wunde ist aufgeplatzt, er muss umgehend behandelt werden.“

Angelina legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Danach half sie Jeff beim waschen, anziehen und bereitete eine Tasche für seine Aufnahme vor. Sie handelte fast automatisch, ohne viele Worte. Jeff bekam nun starke Schmerzen und Angelina gab ihm Tabletten. Beim Verlassen des Hauses musste sie ihn stützen und half ihm auch beim Einsteigen in den Wagen. Sie fuhren los. Jeff saß mit starrem Blick auf dem Beifahrersitz.

„Wie geht es dir?“, fragte Angelina besorgt, nachdem sie auf die Autobahn abgebogen waren. Sie war aber froh, dass er sich den Sicherheitsgurt angelegt hatte.

„Ich muss nicht mehr so zittern“, antwortete Jeff – und im gleichen Augenblick schüttelte es ihn wieder.

„Macht dir das Zittern … Angst?“, fragte Angelina vorsichtig.

„Ja. Es ist … Es ist, als ob ich dann sterbe.“

„Mach dir keine Sorgen. Alles wird bestimmt wieder gut.“

Angelina hätte gerne etwas anderes gesagt. Etwa so, wie sie es in zahllosen Kursen für Notfälle an der Schule gelernt hatte. Aber jetzt, in der Realität, war ihr nichts Besseres als diese Phrase eingefallen.

„Ich glaube, ich hab ganz schön Mist gebaut“, seufzte Jeff nach einer Weile.

Angelina suchte nach einer passenden Antwort.

„Ich glaube, du hast nur deutlich gezeigt, wie es dir wirklich geht. Wir hätten es ahnen können … aber wir waren alle zusammen blind.“

„Es tut mir leid, Mama“, sagte Jeff niedergedrückt.

„Mach es dir nicht zu schwer. Bis du nach Hause kommst wird dein Zimmer so sein, als ob nichts geschehen wäre“, versuchte ihn Angelina zu trösten.

„Das will ich nicht“, erwiderte Jeff aufgeregt. „Mein Zimmer ist jetzt so, wie ich mich fühle. Einfach kaputt. Aber ich werde es wieder in Ordnung bringen. Ich ganz alleine. Ihr fasst nichts an. Versprichst du mir das?“

„Ja, versprochen“, sagte Angelina. Sie war zwar überrascht, aber auch erleichtert, dass Jeff reagierte. „Und jetzt denk nicht mehr daran. In wenigen Minuten kommen wir im Krankenhaus an. Später werde ich Vater und Jerry anrufen, damit sie sich nicht sorgen, wenn sie nach Hause kommen.“

`Vater. Jerry. Mel´, ging es Jeff durch den Kopf. `An die hab ich jetzt überhaupt nicht mehr gedacht.´

***

Blaues Gold

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