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Erstes Jahr – Wir haben einen Traum
ОглавлениеDer Tag für das Familientreffen hätte nicht besser sein können. Es war ein warmer Samstag Mitte Juli. Am herrlich blauen Abendhimmel funkelten die ersten Sterne und die Luft duftete angenehm nach Strand und Meer.
Ab und zu brachte der laue Wind Frische vom Atlantik zum Haus Nummer 22 in der Belair Avenue auf Merritt Island, Florida. Bei Familie Strela war das Abendessen beendet und Mutter Angelina brachte ihre elfjährige Tochter Melinda zu Bett. Oben würde sie ihr noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen, danach müde zurückkommen und aufräumen.
Vater Igor wich mit seinen Eltern, die an Samstagen öfters zu Besuch kamen, ins gemütliche Wohnzimmer aus. Der Großvater und sein Sohn tranken nach dem Essen gerne ein Gläschen Wein und diskutierten über Politik, Gott und die Welt. Die Großmutter langweilte sich immer bei diesen Gesprächen, blieb aber auch heute aus Höflichkeit noch einige Minuten bei ihnen. Dann stand sie auf, erklärte entschuldigend, dass sie ihrer Schwiegertochter helfen müsse, und entschwand in die Küche.
Die beiden Söhne des Hauses, Jeff und Jerry, vierzehn und siebzehn Jahre alt, saßen auf einem Sofa in der Ecke – und langweilten sich bald auch. Die Themen der beiden Herren – die desolate Lage der Nation und die verfehlte Außenpolitik – taten ihre Wirkung.
„Hey, Jungs“, rief Igor seinen Söhnen zu. „Kommt und setzt euch ein Weilchen zu uns.“
„Ihr redet zu viel über Politik“, antwortete Jerry, der Ältere. „Und es ist warm hier drin. Wir gehen lieber in den Garten. Komm Jeff.“
Jerry sprang auf und lief durch die offene Verandatür hinaus. Jeff humpelte, auf Krücken gestützt, hinterher. Er hatte sich erst am Mittwoch bei einem Fußballspiel in der Schule den Knöchel verstaucht. Und das schon zum dritten Mal in diesem Jahr. Igor rief ihnen hinterher, es wäre unhöflich zu gehen, wenn der Großvater zu Besuch sei. Aber der legte seine kräftige Hand auf Igors Schulter und beschwichtigte:
„Lass sie nur gehen. Sie werden früh genug mit dem Ernst des Lebens in Berührung kommen.“
Draußen im Garten kündigte sich die nahende Nacht mit langen Schatten an. Am Himmel war weit und breit keine Wolke zu sehen und die großen Sterne im Sternbild Schwan blinkten und leuchteten mit dem Mond um die Wette.
Jerry und Jeff blieben auf dem erst am Vormittag kurz gemähten Rasen stehen und schauten andächtig nach oben.
„Der Himmel ist wieder fantastisch“, unterbrach Jeff die Stille. „Und der Mond. Er scheint heute besonders hell. Fast wie eine kleine Sonne. Findest du nicht auch?“
Der Mond war erst vor kurzem aufgegangen und kletterte am östlichen Horizont den Himmel empor.
„Ja“, antwortete Jerry leise, als hätte er Angst die Erhabenheit des Augenblicks zu stören. „In drei Tagen ist Vollmond.“
Jeff ließ seine Krücken auf den Rasen gleiten und setzte sich vorsichtig hin.
„Wer als erster eine Sternschnuppe sieht, hat gewonnen. Und darf sich was wünschen. Okay?“, schlug er vor.
„Einverstanden.“
Jerry streckte sich neben Jeff im Gras aus und tastete den Abendhimmel aufmerksam ab. Die Minuten vergingen.
„Es scheinen heute überhaupt keine Sternschnuppen zu fliegen“, stellte er nach einer Weile fest.
Jeff blickte ab und zu verstohlen zu seinem Bruder, denn der kannte den Himmel besser als er. Fast immer erahnte er, wo die nächste Sternschnuppe auftauchen würde.
„Da!“, riefen beide gleichzeitig und ihre Hände schossen in Richtung der Leuchtspur, die für den Bruchteil einer Sekunde das Firmament erleuchtete.
Jeff sah zu seinem Bruder hinüber. Eigentlich hatte er fragen wollen, wer denn nun gewonnen habe – doch plötzlich war ihm ein anderer Gedanke wichtiger.
„Weißt du, Jerry, wovon ich oft träume?“
„Keine Ahnung.“
„Versprich mir aber, dass du mich nicht auslachst.“
„Tue ich nicht.“
Sie setzten sich auf und Jeff fasste sich Mut.
„Ich würde so gern ins Weltall fliegen. Seit ich klein bin, erzählt uns Vater immer diese Geschichten. Über die Raketen, das All und so. Es muss schön sein, da oben zu schweben und die Erde zu beobachten.“
Jerry drehte sich langsam zu seinem Bruder. Er kaute an einem Grashalm und spuckte ihn jetzt aus.
„Weißt du, Jeff, so einen Traum hab ich schon lange“, sagte er. „Bestimmt noch länger als du. Ich würde weiß Gott was dafür geben, wenn ich bis zum Mond fliegen könnte.“
„Bis zum Mond?“, staunte Jeff. „So weit weg. Das geht doch gar nicht so einfach. Oder?“
„Ach was! Wenn du erst einmal oben bist, dann sind es bis zum Mond nur noch drei Tage. Klar, ein paar Snacks für unterwegs und die richtige Ausrüstung müsste man schon dabei haben.“
Jeff lachte.
„Du denkst immer nur ans Essen. Mir würde es schon genügen, die Erde ein paarmal zu umrunden. Dafür würde ich sogar fasten.“
Beide verstummten. Zumal sich Jerry über die Bemerkung seines Bruders ärgerte. Wegen seiner Vorliebe für gutes Essen wurde er immer wieder Zielscheibe bissigen Spotts. Derweil sahen sie den abendlichen Kunstflügen einer Fledermaus zu, die am Nachbarhaus Jagd auf Insekten machte. Aus dem fahlen Licht einer Wandlaterne, die erst vor kurzem angegangen war, schnappte sie sich ihre Häppchen.
„Jerry, glaubst du man könnte so was machen?“, meldete sich Jeff vorsichtig. „Also, ich meine …“
„Was meinst du?“, fragte Jerry und schaute seinen Bruder durchdringend an.
„Also, ich frag mich, ob wir … du und ich, und vielleicht noch zwei oder drei andere … also, ob …“
„Was stotterst du so herum? Sag einfach gerade heraus, was du sagen willst“, fuhr ihn Jerry als Retourkutsche zur vorherigen Bemerkung an.
„Also, ob wir so eine Rakete nehmen und zum Mond fliegen könnten? Nur rein theoretisch.“
Verdutzt sah Jerry seinen kleinen Bruder an.
„Komisch. Daran hab ich gerade auch gedacht. Mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich mir das nur vorstelle. Bis zum Mond fliegen. Das wär der Wahnsinn.“
Jerrys Augen leuchteten. Auf einmal war er mit den Gedanken weit weg in den unendlichen Weiten des Weltalls. Jeff holte ihn unsanft auf die Erde zurück.
„Na? Was meinst du?“, fragte er laut.
Jerry schüttelte sich und kniff die Augen zusammen. Das tat er manchmal, wenn ihn jemand aus seinen Gedanken riss. Aber auch, wenn von ihm eine wichtige Antwort erwartet wurde.
„Also, ich denke, rein theoretisch, wenn das andere schaffen, dann sollten wir das auch können. Nach einem guten Training und so.“
Jeff hing an Jerrys Lippen, blinzelte angespannt.
„Ich bin mir sicher, dass wir es schaffen könnten. Vorausgesetzt, wir haben eine Rakete und die passende Ausrüstung“, ergänzte Jerry.
Jeff strahlte vor Freude. Er hatte soeben einen Einfall, den er für genauso genial wie für verrückt hielt.
„Dann lass uns das doch planen, Jerry“, rief er. „Einfach wie ein Spiel. Es wird bestimmt Spaß machen und wir lernen viel. Der ganze Weltraumkram ist doch auch dein Hobby.“
„Für mich ist das mehr als ein Hobby, Jeff“, antwortete Jerry ernst. „Ich will auf dem Gebiet später arbeiten. Wie Vater. Astronomie, Raumfahrt und das Programmieren drumherum machen mir jetzt schon richtig Spaß.“
„Dann lass uns das doch machen“, drang Jeff auf seinen Bruder ein.
„Jeff, das kann man nicht planen wie einen Ausflug am Wochenende ans Meer. An so einem Vorhaben müssten wir hart arbeiten. Sehr hart sogar.“
„Dann arbeiten wir eben hart“, insistierte Jeff und hielt Jerry seine Hand hin. „Wir planen ab heute einen Flug zum Mond. Schlag ein.“
„Mann, bist du penetrant. Na gut, abgemacht.“
Jerry klatschte die Hand seines kleinen Bruders ab, um Ruhe zu haben. Außerdem war er sich sicher, dass der die ganze Geschichte eh bald vergessen würde.
„Und wen willst du mitnehmen auf die große Reise?“, fragte er ihn dann. „Großmutter, Vater oder auch Mutter?“
„Ich nehme Marco mit“, antwortete Jeff ohne zu zögern. Marco war sein bester Freund. „Und wen nimmst du mit?“
„Keine Ahnung. Mir reicht es, wenn ich oben bin. Außerdem – du kannst die Leute nicht einfach nach Sympathie auswählen. Da müsste eine Art Eignungstest her.“
„Du hast doch gesagt, dass es geht. Also muss man bestimmt nicht besonders schlau sein, um ins Weltall zu fliegen.“
„Das nicht unbedingt. Aber Talent und starkes Interesse für die ganze Sache, das sollte man schon mitbringen. Jeden kannst du nicht mitnehmen.“
„Was meinst du damit?“
„Marco ist dein Freund und ihr versteht euch gut. Aber ob er geeignet wäre für einen Flug zum Mond? Ich weiß nicht.“
„Aber ich weiß genau worauf du anspielst. Und das ist gemein. Marco ist genauso schlau wie alle anderen. Er ist nur etwas langsamer.“
Jeff warf sich auf Jerry und plötzlich kugelten sich beide im Gras. Jeff war immer sauer, wenn er das Gefühl hatte, dass jemand über seinen besten Kumpel herzog. Und so etwas durfte er auch seinem eigenen Bruder nicht ungestraft durchgehen lassen.
„Hey, was soll das?“, rief Jerry. Er versuchte Jeff, der ihn boxte und kitzelte, abzuschütteln. „Lass das.“
„Nur wenn du versprichst, dass wir Marco mitnehmen …“, keuchte Jeff. „… auf den Mond.“
„Okay, okay“, prustete Jerry.
Geschickt wand er sich aus Jeffs Umklammerung und sprang auf.
„Ich geh wieder rein. Es wird mir langsam zu feucht und die Mücken sind auch lästig.“
„Denk an dein Versprechen“, rief ihm Jeff nach, beim Versuch aufzustehen. „Aua!“
Er hatte sich beim Herumbalgen soeben wohl gestoßen, der verstauchte Knöchel tat ihm wieder weh. Jeff blieb daher sitzen und wartete, bis der Schmerz etwas nachließ. Dann stand er auf und humpelte vorsichtig zurück ins Haus.
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