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Sehnsucht

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Jenny lehnt auf der gemütlichen Couch im Wohnzimmer ihres Elternhauses. Sie lebt mit ihrer Familie auf einem Hügel in Krater Florey, etwa achtzig Kilometer südlich des Mondnordpols. Durch das aus speziellem Glas hergestellte Dach betrachtet sie die ferne Erde. Ab und zu rutscht sie vorsichtig zum Fernrohr neben ihr, das sie stets präzise auf die Erde ausgerichtet hält. Sie sieht dann hindurch, immer in der Hoffnung, endlich einen Blick bis auf die Erdoberfläche werfen zu können.

„Ich habe die Erde noch nie ohne diese verflixten Wolken gesehen“, beschwert sie sich wieder einmal bei ihrem Vater.

Jeffrey steht an einem großen Metalltisch und studiert einige vor ihm ausgebreitete Mondkarten und Unterlagen.

„Seit ich denken kann, Vater“, setzt sie deutlich hinzu, um endlich seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Jeffrey dreht sich langsam um, und überlegt dabei, was er seiner jungen Tochter antworten soll.

„Ich auch nicht, Schatz. Und dein Großvater ebenfalls nicht. Nur dein Urgroßvater Jack erzählte, solange er noch lebte, von ihrer überwältigenden Schönheit. Er gehörte zu den Letzten, die die Erde besucht haben. Wie du weißt, kehrte er nicht mehr auf den Mond zurück.“

Jenny seufzt verstimmt. Sie hat in den letzten Jahren bei Familiengesprächen so viel über den Planeten Erde gehört. Auch in der Schule erzählen ihre Lehrer manchmal Geschichten über die `blaue Murmel´. Vor den Ferien schauen sie sogar schöne Bilder und alte Filme von der Erde. Und doch hat Jenny immer das ungute Gefühl, dass sie sich die Erde überhaupt nicht richtig vorstellen kann.

`Wie ist die Erde wirklich?´

Spätestens bei diesem Gedanken ist Jenny meistens verstört.

`Wie ist das in der Realität, worüber wir reden? Regen und Schnee? Keiner hier auf dem Mond hat es je erlebt. Wie sind Wind, Gewitter und Donner? Wie fühlt und hört sich das wirklich an? In echt. Und wie ist es, in schneebedeckten Bergen oder in der Nacht in einem dunklen, schwarzen Wald zu stehen? Ein großer Wald dort unten soll sogar so heißen. `Schwarzwald.´ Und ein Urahn von uns stammt von dort. Und wie ist es am Meer? Dort soll es Strände mit hellem und weißem Sand geben. Wieso riecht und schmeckt die Luft am Meer anders als in den Bergen?´

Jenny hat mehr als tausend Fragen, aber niemand kann sie zu ihrer Zufriedenheit beantworten.

`Auf dem Mond haben wir auch `Meere´. Aber die nennen wir `Maria´. Sie sind alle ohne Wasser. Knochentrocken.´

Jenny platzt fast vor Neugierde, die Erde endlich mit den eigenen Augen in ihrer ganzen Pracht zu sehen. Ja, es gibt auch bunte Bildchen in Büchern und digitale Fotos sicher verwahrt auf irgendwelchen Speichern. Und jeder kann die Erde mit einem 3-D-Helm virtuell besuchen. Aber all das reicht Jenny schon lange nicht mehr.

„Ich will die Erde mit meinen eigenen Augen sehen!“, sagt sie oft zu ihrem Vater.

Und weil sie nicht einfach hinfliegen kann, so möchte sie wenigstens durch das Fernrohr einen Blick auf die Bergspitzen und die Wellen der irdischen Meere erhaschen.

Jenny verbringt daher viele Tage nur damit, die in Wolken eingehüllte Erde zu beobachten. Stundenlang sitzt sie geduldig am Fernrohr und wartet. Jedes Mal, wenn sie den Eindruck hat, die Wolkendecke könnte an einer Stelle aufgehen und das sich öffnende Fenster ihr einen Blick bis auf die Erdoberfläche freigeben – dann springt sie schnell auf und sieht durchs Fernrohr. Doch bisher erlebte sie immer nur Enttäuschungen. Die Erde will ihr die verborgenen Geheimnisse einfach nicht preisgeben. Jennys Sehnsucht nach der Erde wächst mit jedem neuen Tag. Am liebsten würde sie noch heute hinfliegen.

„Wie lange soll es denn noch dauern, bis sich diese Wolken auflösen und uns die Sicht freigeben?“, fragt sie.

Dabei stampft sie verärgert mit dem rechten Fuß auf den Boden. Ihr Vater schaut von seinen Unterlagen auf.

„Wir wissen es nicht, Schatz. Die beiden Raumgleiter, die erst Jahre nach dem Asteroideneinschlag 2234 zur Erde flogen, kamen nicht zurück. Der Kontakt zum ersten Gleiter riss schon nach wenigen Stunden ab.“

Wehmütig sieht Jeffrey seine Tochter an.

„Und der letzte Flug war mit deinem Urgroßvater Jack. Er konnte mit seiner Crew zwar landen. Aber sie fanden die überlebensnotwendige Infrastruktur größtenteils zerstört vor. Die Bilder der Verwüstungen, die uns noch erreichten, waren schrecklich. Und nach zwei Tagen brach der Kontakt völlig ab. Bis heute wissen wir nicht, was damals auf der Erde geschehen ist.“

„Warum fliegen wir nicht wieder hin, um nachzusehen?“, will Jenny wissen.

„Das Risiko ist noch immer zu groß. Wir können es uns nicht leisten, weitere Raumgleiter zu verlieren. Es sind nur zwei übrig. Und die drei anderen Kolonien haben auch die meisten ihrer Flieger eingebüßt. Bei der ungewissen Lage will keiner auf Teufel komm raus riskieren.“

„Ich habe keine Angst“, ruft Jenny. „Wir benötigen doch auch Rohstoffe von der Erde. Oder etwa nicht?“

„Ja“, gibt Jeffrey stirnrunzelnd zu. „Sogar dringend. Ohne baldigen Nachschub werden wir nur wenige Jahrzehnte überleben. Keine der vier großen Kolonien hier ist autark.“

Jeffrey seufzt. Er weiß, wie ernst die Lage ist.

„Ich möchte die Geschichte vom Gründer unserer amerikanischen Kolonie hören, Vater“, sagt Jenny plötzlich. „Es ist so lange her, dass du sie mir erzählt hast.“

„Du hast die Geschichte bestimmt dutzendmal gehört“, lacht Jeffrey. „Aber vielleicht hast du nicht immer aufgepasst?“

„Ich kann mich kaum noch erinnern“, schmunzelt Jenny. „Und du kannst so schön erzählen. Bitte, Vater!“

„Ach. Ist das der Grund? Die Geschichte steht doch im Infocenter zur Verfügung. Jederzeit abrufbereit. Und es wurden sogar Filme über die Besiedlung des Mondes durch Jeff und Jennifer, unsere Mondahnen, gedreht. Magst du nicht lieber einen Film sehen?“

„Das ist doch langweilig, Vater. Am schönsten ist es, wenn du mir aus dem Buch vorliest.“

„Das dauert doch so lange und macht mich immer müde.“

Jeffrey leistet noch etwas Widerstand.

„Bitte, bitte, Vater“, bettelt Jenny. „Nur wenn du sie mir erzählst, dann habe ich was davon. Du kannst einfach den Buchchip einstecken. Wie das letzte Mal. Dann erzählt dein Mund die Geschichte ja ganz von alleine.“

Jenny weiß, dass sie gewinnen wird und springt auf.

„Wir haben den ganzen Sonntag Zeit und es gibt sowieso nicht viel zu tun“, sagt sie bestimmt.

Jeffrey betrachtet seine erst vierzehnjährige Tochter aus dem Augenwinkel.

`Sie ist so ein Energiebündel. Von wem sie das hat?´

Er erinnert sich an seine eigene Jugend, an die zahlreichen Sonntage, die er mit seinem Vater zubrachte, um die Erde zu beobachten. Es sind angenehme Erinnerungen, denn damals hatten sie alle noch viel Hoffnung.

„Nun gut“, gibt sich Jeffrey geschlagen. „Aber wir sagen Mutter Bescheid. Damit sie nicht umsonst auf uns wartet.“

„Mach du das, Vater“, ruft Jenny erfreut. „Ich hol den Buchchip. Ich weiß genau wo er im Tresor liegt.“

Nach Jennys Rückkehr steckt sich Jeffrey den mitgebrachten Chip in einen kleinen Schlitz hinter seinem linken Ohr. Jeder erwachsene Mondbürger besitzt eine digitale Schnittstelle zu seinem Denkorgan. Mittels einer kleinen Operation wird diese inzwischen bei allen Bewohnern der Kolonien angelegt. In der Regel bald nach Abschluss der Wachstumsphase und sobald das Gehirn optimal entwickelt ist. Die Operation war früher aufwändig und nicht ohne Gefahr. Zu Beginn der Entwicklung hatten einige Eingriffe schwere Schäden zur Folge. Manchmal waren sogar hoffnungsvolle junge Menschen während der Operation oder kurze Zeit danach verstorben. Dies war jedes Mal ein herber Verlust für die kleinen Kolonien mit wenigen tausend Einwohnern. Doch mit der Zeit traten immer weniger Probleme auf und heute überwiegen die enormen Vorteile die Nachteile bei weitem.

Über diese Schnittstelle können die Mondmenschen an alle erdenklichen Informationen gelangen, die auf winzigen Datenträgern gespeichert sind. Längst besteht auch die Möglichkeit einer Datenübertragung per Funk. Aber diese Methode ist anfällig für Störungen und Manipulationen durch Dritte. Jeffrey mag sie daher nicht.

Auf den Datenträgern steht das ganze Wissen der Mondkolonien und der gesamten Menschheit zur Verfügung. Das Allerwichtigste an der Sache ist: über die `Brainchips´ sind die Mondbewohner in der Lage, fast jede nur erdenkliche Fähigkeit zu erwerben. Je nach Neigung, aber vor allem auch nach Bedarf, können sie in verschiedene Rollen schlüpfen. Sie müssen nur die richtigen Programme und Informationen abgreifen und schon können sie diverse Tätigkeiten ausüben.

Dieser Sprung in der Ausweitung von Fähigkeiten war bereits vor zweihundert Jahren nötig gewesen – einfach weil in den Mondkolonien seit Anbeginn Mangel an Menschen herrschte. Vor allem Spezialisten fehlten an allen Ecken und Enden. Noch heute, im vierundzwanzigsten Jahrhundert, leben gerade etwas über zwanzigtausend Expats von der Erde auf dem Mond und regelmäßig stehen für anfallende Aufgaben keine Experten zur Verfügung. Nur Dank diesem Fortschritt waren und sind die Kolonien überlebensfähig. Mit Hilfe passender `Brainchips´ kann jeder einigermaßen Begabte Spezialaufgaben ausüben, obwohl er sie nie zuvor gelernt hat. Sobald ein Denkorgan Zugriff auf einen `Brainchip´ hat, kann es das darauf gespeicherte Wissen abrufen und der Mensch eignet sich bedarfsgerecht die unglaublichsten Qualifikationen an. Jeffrey ist öfters in der Rolle eines Musikers, Schauspielers, Handwerkers, Chirurgen oder auch eines Richters unterwegs. Um einen `Chip´ möglichst effektiv zu nutzen, wird eine Subtanz genommen, die den kontinuierlichen Datenfluss unterstützt.

„Hast du die Tablette mitgebracht?“, fragt Jeffrey seine Tochter, die unvermittelt vor ihm steht.

Versunken in Erinnerungen hatte er ihre Rückkehr zunächst gar nicht wahrgenommen.

„Sie liegt in der Silberdose auf dem Tisch, Vater. Das Glas mit Wasser steht direkt daneben.“

Jeffrey versichert sich, dass der `Chip´ gut sitzt und spült mit einem Schluck kostbarem Mondwasser die Tablette hinunter. Dann lehnt er sich bequem zurück, schließt die Augen, atmet tief durch und wartet. Jenny schaut ihn liebevoll an und legt sich neben ihn auf das Sofa. Jeffrey konzentriert sich, stellt die Verbindung zum `Chip´ und der Datei darauf her. Nach kurzer Zeit scannt er den Buchinhalt und findet das erste Kapitel: `Wir haben einen Traum´.

„Bist du soweit, Jenny?“, fragt er.

„Ja“, antwortet seine Tochter ungeduldig.

„Dann schließe jetzt die Augen. Ich stell mich auf Intervalle von einer halben Stunde ein. Danach machen wir immer eine Pause. Okay?“

„Das ist okay.“

Jenny ist froh, dass es ihr geglückt ist, ihren Vater zu überreden. Die kurzen Pausen gönnt sie ihm dann gerne.

Jeffrey gibt in seine Körperuhr am linken Handgelenk optimale Werte für die Atemfrequenz und den Herzrhythmus ein. Nach kurzer Zeit beginnt sich sein Körper zu entspannen, der Atem wird ruhig und er gleitet in einen tranceähnlichen Zustand. Sein Mund beginnt sich zu bewegen. Auf und zu, auf und zu. Zunächst nur langsam und lautlos, als wäre er ein Fisch. Dann schalten sich, wie auf ein geheimes Kommando, die Stimmbänder zu. Mit sanfter Stimme beginnt er seiner Tochter ihre Lieblingsgeschichte zu erzählen:

`Blaues Gold´

***

Blaues Gold

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