Читать книгу Gustav Klimt. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Gustav Klimt - Patrick Karez - Страница 12

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Heute war er also da. Der große Tag. Der alles verändernde Tag. Oder eben nicht. Aber zumindest hätte man dann ja die Gewißheit. Ob es etwas wird. Oder eben nicht. Sollte es nichts werden. Wäre es auch nicht allzu schlimm. Dann würde er eben in die Fußstapfen seines Vaters treten. Und Graveur werden. Sollte es jedoch was werden. So würde es sein ganzes Leben verändern. Und das seiner ganzen Familie gleich mit. Das wußte er. Das spürte er. Deswegen war er heute sehr aufgeregt. Er zitterte am ganzen Körper. Denn es hing ja schließlich vieles davon ab. Nein. Alles!

Die Mutter hatte seine einzige Hose auch nicht retten können. Die ganze Nacht lang. Hatte sie daran gesessen. Die Flicken auszubessern. Nein. So konnte man ihn schließlich nicht hinschicken. Den Sohn. Zerlumpt. Und zerschunden. Zusammengeflickt. Und zusammengeschustert. Wie ein Vagabund. Nein. Er bekam heute die Hose seines Vaters. Ausnahmsweise. Besaß der Vater sogar drei. Aus besseren Tagen. Die eine. Zum arbeiten. Die andere. Für jeden Tag. Die dritte. Wenn er Kunden treffen mußte. Genau die. Bekam der Sohn heute. Nicht etwa geschenkt. Sondern nur geliehen. Die Mutter hatte sie über Nacht angepaßt. Vom Vater. Auf den Sohn. Paß auf damit! Mahnte die Mutter. Schau genau hin! Wo du dich hinsetzt! Achte auf Nägel! Und Holzsplitter! Reiß sie nicht auf! Mach keine Flecken rein! Es ist die einzige gute Hose deines Vaters!

So ging er nun. Dahin. Aufgemascherlt. Und die Schuhe sorgsam poliert. Diese alten Schuhe. Seines Vaters. Mit Zeitungspapier. Hatte man sie vorn ausstopfen müssen. Damit sie paßten. Wie ein Clown. Fühlte er sich. Mit diesen langen Schuhen. Die sich vorn hochbogen. Die Hose zu weit. Zu breit. Zu lang. Unterwegs dachte er kurz daran. Wieder kehrt zu machen. Aber dann. Dann sah er die Baustellen. Er mußte über die halbe Ringstraße marschieren. Um zur Kunstgewerbeschule zu kommen. Zunächst war er die Burggasse hinuntergelaufen. Nur einige Häuserblöcke weit. Und dann stand er auch schon mittendrin. In der Baustelle. Das Jo-sephstädter Glacis wurde zur Zeit komplett überbaut. Zuvor, da war es ein Kanoniergürtel gewesen. Hatte der Vater ihm erklärt. Zu seiner Zeit. Als Jugendlicher. Da war es nichts weiter als eine riesige Wiese gewesen. Welche die alten Stadtmauern umschloß. (Die ja nun nicht mehr da waren.) Wegen der Türkenbelagerungen. Die ja zweimal stattgefunden hatten. Und auch sonst. Im Notfall. Im Kriegs- und Belagerungsfall. Benötigte man freie Sicht. Auf den herannahenden Feind. Wenn man nämlich die Kanonen von der Stadtmauer aus abfeuerte. Da konnte man keine privaten Häuser gebrauchen. Mitten in der Schußlinie. Und ein dicht bebautes Wohnquartier. Noch viel weniger. Zu Jugendzeiten des Vaters. Da wurde hier noch exerziert. Regelmäßig. Übte und schoß die Kavallerie hier. Ver.übte. Und ver.schoß. Hier. Ihre Munition. Heute war es eine Großbaustelle. Links. Das neue Rathaus. Gigantisch. Hoch. Wie der Stephansdom. Neugotisch. Und davor. Das Parlament. Neugriechisch. Und rechts. Die Zwillingsbauten. Die Museen. Noch lange nicht fertig. Hier. Ja. Hier. An Ort. Und Stelle. Da bräuchte man ihn. Als Künstler. Als Zeichner. Als Kunsthandwerker. Als Kunstgewerbler. Als Dekorateur. Insofern er die heutige Prüfung auch bestand.

Weiter ging es. Vorbei an der Hofburg. Der neue Teil. War längst nicht fertig. (Und er sollte es auch niemals werden.) Dann an der Staats-Oper. Und immer weiter. Die Ringstraße entlang. Die sich hier leicht nach unten neigte. Sie beugte ihr Haupt. Beziehungsweise ihren Fahrdamm. Etwa von der Hofburg aus. Denn sie führte ja zum Donau-Canal hinunter. Vorbei am Stadtpark. Und gleich dahinter. Das soeben erst errichtete Museum. Das K.u.K. Museum. Das Kaiserliche. Und Königliche. Österreichische. Museum. Für Kunst. Und Industrie. Mitsamt seiner neu begründeten Schule. Die Kunst-Gewerbe-Schule. Eine interessante Verbindung. So dachte er. Auf der Weltausstellung hatte er es ja schließlich schon gesehen. Durch den Bauzaun hindurch. Allerdings nur. Die Industrie. Konnte durchaus auch Kunst sein. In diesen Tagen. Und die Kunst. Konnte demnach auch Industrie sein. Denn es war ja schließlich eine Kunst. Die Industrie. Wenn man einmal an die Ungetüme aus Stahl dachte. Die Rotunde. Die Glaspaläste. Die Brücken. Die Wehre. Die Ozeandampfer. Die Eisenbahnen. Ja. Das alles. Das war eine völlig neue Verbindung. Aus Kunst. Und Industrie. Und genau daran. Wollte er teilhaben. Ein Teil sein. Dieser neuen Welt. Wo die Kunst nicht mehr isoliert dastand. Wo sie nicht mehr getrennt war. Von der Industrie. Dieser neuen Kraft. Dieser neuen Größe. Dieser neuen Kunst. Jener Zeit. Denn der Industrie. Ihre Kunst. Und der Kunst. Ihre Gewerblichkeit. Und da stand er nun. Vor der K.u.K. Kunst-Gewerbe-Schule. Wo heute die Aufnahmeprüfung stattfand. Zu der er zugelassen worden war. Einer. Von wenigen. Und es war ein Privileg. Das wußte er. Denn das hatte man ihm gesagt. Er sollte sie bestehen. Genauso wie seine beiden Brüder. Später. Alle drei. Sollten sie hier studieren.

So. Meine Herren. Als Vorlage. Dient Ihnen dieser antike Kopf hier. Ein Gipsabguß natürlich. Denn echte Köpfe, die haben wir hier nicht. (Allgemeines Gelächter.) Ich meinte: echte antike Köpfe, die haben wir hier nicht. Nur eben diese Gipsabgüsse. Aber die thun’s zur Noth auch. Wenn nicht sogar genauso guth. Sie werden sich jetzt in diesen weiblichen Kopf hineindenken. (Wieder allgemeines Gelächter.) Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen, glauben Sie mir! Sie sollen erfassen. Was die Antike überhaupt bedeutet! Beachten Sie diese edlen, klaren, erhabenen, idealen Formen. Idealisierend. Wenn man so will. Beachten Sie vor allem das Spiel aus Licht. Und Schatten. Es muß Eins zu Eins auf dem Papier wiedergegeben werden. Sie übertragen somit. Ein dreidimensionales Objekt. Auf ein zweidimensionales Medium. Das wird Ihr zukünftiger Beruf sein. Insofern Sie diese Prüfung überhaupt bestehen! (Und tatsächlich war inzwischen allen das Lachen vergangen.)

Sein Sitznachbar bei der Aufnahmeprüfung hieß Matsch. Franz. Matsch. Und das sollte er auch bleiben. (Sein Sitznachbar. Nicht Franz Matsch. Denn er sollte 1912 in den Adelsstand erhoben werden. Und fortan Edler heißen. Edler. Von. Matsch. Das machte einen gehörigen Unterschied. Zumal in jenen Tagen.) Gott hatte es scheinbar so gewollt. Nämlich für die ganzen nächsten sieben Jahre. Er schien ein netter Kerl zu sein. Dieser Matsch. Von recht feinem Schliff. Aber schüchtern. Und äußerst zart besaitet. So erschien es zumindest. Gustav Klimt. Der ja ein ganz klein wenig grobkörniger war. Zumal in diesen Hosen. Der Matsch. Der trug gescheite Hosen. Das fiel ihm sofort auf. Und schöne Schuhe. Nicht so wie er. In seinem elenden Clownskostüm.

Sie wurden der Reihe nach aufgerufen:

„Klimt!“

„Ja!“

„Matsch!“

„Jawohl!“

Es wurde gekichert. Klimt hörte es. Und Matsch vermutlich auch. Hinter ihrem Rücken.

„Matsch! Matsch! Hupf in’ Gatsch!“

„Klimt! Klimt! Dummes Rind!“

Aber die würden sich noch wundern. Dachte er.

(Und er sollte Recht behalten.)

Gustav Klimt. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Gustav Klimt

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