Читать книгу Gustav Klimt. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Gustav Klimt - Patrick Karez - Страница 8

4

Оглавление

Sieben kleine Kinderlein.

Die trafen eine Hex’.

Eines kochte sie sich ein.

Da waren’s nur noch sechs.

Heute war etwas anders. Irgend etwas stimmte nicht. Das fiel Gustav sofort auf. Was es war, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Aber bald wüßte er es. Es war still. Verdächtig still. Die Ruhe vor dem Sturm. Denn die Kleine schrie nicht. Sie weinte nicht. Wie sonst immer. Den ganzen Tag lang. Und die ganze Nacht. Aber vor allem am Morgen. An diesem Morgen. Jedoch. Blieb alles still. Totenstill. Er wagte also einen Blick nach rechts. Irgendwie hatte er es im Gefühl gehabt. So eine Art Vorahnung. Denn die Kleinste, Anna, war ja immerzu krank gewesen. Ihr Herz war schwach. Und ihre Lungen auch. Sie litt unter Atemnot. War ständig verschleimt. Hatte immerzu gehustet. Und eine graue Gesichtsfarbe. In einem Gesicht. Das nicht das Gesicht eines Säuglings war. Oder das eines Kleinkindes. Es war das Gesicht. Einer Erwachsenen. Einer alten Frau. Die bereits alles gesehen und erlebt hatte. AN.NA. Wie die Mutter. So die Tochter.

Heute war ihr Gesicht noch grauer als sonst. Nein. Es war geradezu grün. Grüngrau. Graugrün. Und ihre Lider waren halb geöffnet. Und ihr Mund auch. Sie gab keinen einzigen Mucks von sich. An diesem Tag. Der alles verändern sollte. Und sie rührte sich auch nicht. Auch dann nicht, als er sie anstieß. Erst zaghaft. Und vorsichtig. Dann schließlich fester. Aber es tat sich nichts. Zudem fühlte sie sich kalt an. Unnatürlich kalt. Wie eine Puppe. Oder wie eine Skulptur. Aber nicht wie ein Mensch. Aus Fleisch. Und Blut. Es war nicht das erste Mal. Daß er einen toten Menschen gesehen hatte. Aber es war immerhin seine kleine Schwester. Sein eigen. Fleisch. Und Blut. Und das machte es schlimm. Es war übrigens die Zweitkleinste. Anna. Nicht die ganz Kleinste. Johanna. Denn die war gerade erst ein Jahr alt.

„Mama!“, flüsterte er schließlich, „Mit dem Annerl stimmt was nicht. Ich glaube, sie ist thot!“

Was nun geschah, sollte sein Leben für immer und ewig verändern. Und das seiner Geschwister ebenfalls. Vor allem das. Der ältesten beiden Schwestern. Denn die Mutter reagierte. Sie reagierte über. Sie überreagierte. Sie drehte durch. Und zwar völlig. All das Leid. Und die Frustration. Der letzten Jahre. Über ihre Lebenssituation. Über ihre Wohnsituation. Über ihre finanzielle Situation. Über ihre ausweglose Situation. Entluden sich plötzlich. In einer Art unkontrolliertem Gewitter. Wie bei einem defekten Generator. Der ständig unter Strom steht. In einem völligen Nervenzusammenbruch. Noch nie hatte Gustav seine Mutter in einem derartigen Zustand erlebt! Sie war außer sich. Sie schrie. Sie weinte. Sie wehklagte. Wie in einem Shakespeare’schen Drama. Oder wie in einer antiken Tragödie. Streckte die Mutter das tote Kind gen Himmel. Sie verfluchte Gott. Und sie verfluchte ihren Ehemann. Und dies würde sich auch fortan nicht mehr ändern. Es würde niemals wieder besser werden. Das wußte er.

Es gibt ja bekanntlich verschiedene Stadien der Trauer. Zunächst einmal. Glaubt man das alles nicht. Man kann es einfach nicht glauben. Kann es nicht fassen. Man verweigert sich. Der Realität. Die viel zu schmerzhaft wäre. Dann jedoch. Reagiert man mit Wut. Und Haß. Mit Enttäuschung. Dann versinkt man. In Selbstmitleid. Und in Kummer. Man resigniert. Und schließlich. Wenn Gott will. Akzeptiert man es. Seine Mutter allerdings. Bewegte sich bloß zwischen Stadium zwei und drei. Sie glaubte es. Wollte es aber nicht akzeptieren. Mit ihrer Verzweiflung. Und Trauer. Marterte und zerfleischte sie sich selbst. Mit ihrer Wut. Und ihrem Haß. Marterte und zerfleischte sie den Vater. Denn der war ja schuld! Das alles wäre nicht passiert. Wenn er doch nur eine vernünftige Anstellung gefunden hätte. Wenn er fleißiger arbeiten würde. Wenn er mehr wirtschaftliches Geschick an den Tag legen würde. Wenn er mehr Mut besäße. Und Durchsetzungswillen. Denn dann hätte man auch genug zu essen. Man hätte genug Kohle, um einzuheizen. Und dann müßten auch keine kleinen, fünfjährigen Kinder sterben. Anna. Ach. Anna. Wie die Mutter. So die Tochter.

Für Gustav war diese Erfahrung extrem belastend. Traumatisierend. Er selbst würde keine Familie haben wollen. Zumindest nicht in dieser Form. Es würde ohnehin in die Hose gehen. Und nur weiterhin Unglück verbreiten. Das sah er jetzt. Er hatte seine Lektion gelernt. Und seine beiden ältesten Schwestern ebenfalls. Denn sie kamen. Und sahen. Wie die Mutter sich quälte. Wie sie sich aufgab. Und zwar völlig. Wie sie jeglichen Lebenswillen verlor. Auch den allerletzten Rest davon. Während der Vater sich in Schweigen hüllte. Und zwar völlig. Wie immer eben. Während die Mutter schrie. Und weinte. Und tobte. Blieb er völlig ruhig. Je mehr sie schrie. Und weinte. Und tobte. Desto ruhiger wurde er. Er saß bloß da. Mit glasigem Blick. Aber er weinte nicht. Er weinte niemals. Auch jetzt nicht. Er zog sich zurück. Und zwar völlig. In sich selbst.

Die Kinder, zumal die vier ältesten – also Klara, Hermine, Gustav und Ernst – mißinterpretierten dies völlig. Sie verstanden es nicht. Und sie ließen sich vom Theater der Mutter beeindrucken. Und beeinflussen. Sich in die Irre leiten. Vom Wege abbringen. Sie hielten den Vater für kalt. Gleichgültig. Unbarmherzig. Herzlos. Ja. Der Vater. Dieser Vater. Der ihnen ohnehin schon dies alles hier angetan hatte. Und der jetzt womöglich auch noch froh war. Und erleichtert. Daß es ein Maul weniger war. Das er zu stopfen hatte. Dieser Rabenvater. Der hatte kein Herz. Jetzt sahen sie es. Jetzt wußten sie es. Wie konnte es schließlich anders sein. Wo ja der Vater keine einzige Träne vergoß? Zumal für sein soeben erst verstorbenes Kind. Seine kleine Tochter. Von nur fünf Jahren. Ja. Der Vater war schuld. Tatsächlich. War der Vater an allem Schuld. An allem! Denn er war ja schließlich für alles verantwortlich. Auch für den Tod. Dieses Kindes. Seiner Tochter. Und ihrer kleinen Schwester. Dieser elende Vater. Der Gevatter. Tod. ER. Hatte sie erst alle in diese Lage gebracht. ER. Schaffte es nicht. Sie alle zu ernähren. ER. Schaffte es nicht. Eine warme und komfortable Wohnung zu beschaffen. Für neun Leute. ER. Schaffte es nicht. Einen guten Arzt zu holen. Und somit das Leben seiner kleinen Tochter zu retten. Und zu erhalten. Denn das wollte er womöglich gar nicht. Schließlich hatte er ja noch sechs andere Gefraster in petto. Nein. Der Vater war ein Versager. Jetzt war es also offiziell. Das war der Beweis. Definitiv. Und unumstößlich.

Die Mutter hingegen. Stieg mit einem Schlag auf. Mit einem Ritterschlag. In der Familienhierarchie. Und in der kanonischen. Da schaffte sie es bis ganz hinauf. In den Rang einer Heiligen. Nein. Der Heiligsten. In den Rang. Einer Madonna. Einer Schutzmantelmadonna. Einer Schmerzensmadonna. Noch oft hatte Gustav daran denken müssen. Später. In seinem Leben. Wie die Mutter dasaß. Mit leerem Blick. Völlig apathisch. Und die Kleine in ihrem Arm wog. Beziehungsweise das. Was von ihr übriggeblieben war. Dieser letzte Rest. An schlaffem Köper. Leblos. Und winzig. Zerbrechlich. Grau. Und gläsern. Mit blauen Adern durchsetzt. Noch oft hatte er daran denken müssen. Später. In seinem Leben. An diesen Anblick. Der herzzerreißend war. Und der ihn niemals wieder losließ. Der ihn festhielt. In einer lähmenden und erstickenden Umklammerung. Wie die Pietà. Von Michelangelo. Aus Stein. Grauweiß. Und kalt. Mit blauen Adern durchsetzt. Die Mutter war eine Madonna. Eine Schmerzensmadonna. Eine Heilige. Sancta Anna.

Gustav wurde seither von schrecklichen Albträumen geplagt. Verfolgt. Und geplagt. Oft erwachte er. Schweißgebadet. Mitten in der Nacht. Weil er sich vergewissern wollte. Daß sie alle noch lebten. Vor allem die Kleinste. Johanna. Die war ja gerade erst ein Jahr alt. Völlig wehrlos. Schutzlos. Ausgeliefert. Dem Tod. Denn er ging um. Der Gevatter. Schwarz. Und unheimlich. Mit seiner knöchernen Hand. Und mit seiner Sense. Die alles niedermähte. Was sich ihr in den Weg stellte. Er hatte ihn selbst kommen hören. Den Sensemann. Er hatte ihn gespürt. Diesen eiskalten Lufthauch. Eiskalt. Skrupellos. Und ohne ein jegliches Gefühl. Er kam. Sah. Und holte. Sich alles. Was er wollte. Ohne Rücksicht. Auf Verluste.

In den dunklen Ecken und Winkeln des Zimmers. Da sah er es. Diese Schatten. Sie bewegten sich. Freilich. Nur dann. Wenn man nicht hinsah. Also ließ er es bleiben. Tunlichst. Und rasch. Kniff er seine Augen zu. Aber manchmal. Als er sie gerade erst geöffnet hatte. Da sah er es. Diese Bewegungen. Der Schatten. In der Dunkelheit. Da war etwas in diesem Zimmer. Etwas anderes. Etwas Fremdes. Etwas Böses. Etwas Hungriges. Das sich sehnte. Und sich förmlich verzehrte. Nach Menschenfleisch.

Die Zweitjüngste hatte es erwischt. Sie war ja von Anfang an kränklich gewesen. Und schwach. Aber es hätte auch jeden anderen treffen können. Auch ihn selbst. Schweißgebadet überlegte er. Wie im Fieber. Wer denn wohl als nächster an die Reihe käme. Wer denn wohl als nächster dran glauben müsse. Denn offensichtlich gelang es dem Vater nicht. Seine Familie am Leben zu erhalten. Diese Überlegungen machten ihn fertig. Und zwar regelrecht.

Gestern. So dachte er. Da waren sie noch zu siebt. Sieben Kinder. Eine bunte Schar. So. Wie sie auf die Welt gekommen waren. Und zwar immer schön. Der Reihe nach.

Klara. Gustav. Ernst. Hermine. Georg. Anna. Johanna.

(Die Formel lautete:)

Mädchen. Bube. Bube. Mädchen. Bube. Mädchen. Mädchen.

Heute jedoch. Da waren sie nur noch zu sechst:

Klara. Gustav. Ernst. Hermine. Georg. Johanna.

(Die neue Formel lautete:)

Mädchen. Bube. Bube. Mädchen. Bube. Mädchen.

Etwas störte noch an dieser Formel. Sie war nicht gleichmäßig. Einer war zuviel. Nämlich einer der beiden älteren Buben. Gustav. Oder Ernst. Einer von ihnen beiden mußte wohl oder übel als nächster dran glauben. Einen von ihnen beiden würde es ganz sicher als nächstes erwischen. Und tatsächlich. Nach der kleinen Anna. Stand als nächstes der junge Ernst auf der Abschußliste. Sobald der Sensemann mit ihnen allen fertig war. Wäre die heilige Ordnung wieder hergestellt. Denn dann würde die Formel lauten:

Klara. Gustav. Hermine. Georg. Johanna.

(Also:)

Mädchen. Bube. Mädchen. Bube. Mädchen.

Ganz schön. Gleichmäßig. Denn der Tod ist ein elender Pedant. Nichts weiter. Als ein kleiner Beamter. Ein phantasieloser Bürokrat. Ein kleingeistiger Buchhalter.

Gustav Klimt. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Gustav Klimt

Подняться наверх